epd: Herr Minister, in der nächsten Woche startet der evangelische Kirchentag in Berlin, normalerweise ein fröhliches, unbeschwertes Treffen. Die Sicherheitsbestimmungen werden aber aufgrund der Terrorgefahr schärfer sein als in der Vergangenheit. Erwarten Sie einen Kirchentag mit einem anderen Charakter?
Thomas de Maizière (Bundesinnenminister, CDU): Nein. Ich hoffe, der Kirchentag wird den gleichen fröhlich-kritischen, heiter-konstruktiven Grundton behalten wie in der Vergangenheit. Zwar sind die Sicherheitsvorkehrungen in diesen Zeiten hoch. Ich glaube, dafür haben aber alle Verständnis. Die Teilnehmer sollten sich auf längere Schlangen und die Untersuchung von Taschen und Rucksäcken einstellen und etwas mehr Geduld mitbringen.
epd: Das gilt sicher auch für die Veranstaltung mit Barack Obama. Verstehen Sie den Vorwurf, der Besuch des früheren US-Präsidenten sei Wahlkampfhilfe für Bundeskanzlerin Angela Merkel?
de Maizière: Dass dem Kirchentag vorgeworfen wird, er mache für eine CDU-Politikerin Wahlkampf, habe ich die vergangenen 20 Jahre nicht gehört. Außerdem sagt meine Erfahrung, dass alle Politiker, die glauben, den Kirchentag zur Bühne für einen platten Wahlkampf zu machen, nicht gut beraten sind. Es bekommt ihnen weder beim Kirchentag noch in der Öffentlichkeit. Der Kirchentag ist ein für Deutschland einmaliges Gesprächsforum mit dem Bemühen, Debatten zu gesellschaftspolitisch relevanten Themen voranzutreiben. Themenübergreifend wird dort über Gegenwarts- und Zukunftsfragen diskutiert, wie es das sonst in dieser Größenordnung nicht gibt. Dass dabei nicht nur der Kopf angesprochen wird, sondern auch die Seele - diese Kombination ist wunderbar.
epd: Die Entscheidung des Kirchentagspräsidiums, auch eine Podiumsdiskussion mit einer AfD-Vertreterin zuzulassen, ist umstritten. Als Präsidiumsmitglied tragen Sie diese Entscheidung mit. Warum finden Sie das richtig?
de Maizière: Der Kirchentag ist sehr großzügig, bevor Gruppen vom Markt der Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Es ist Tradition des Kirchentags, andere Positionen auszuhalten. Das muss dann auch für AfD-Vertreter gelten. Wir wollen nicht, dass in offener Weise Positionen vertreten werden, von denen wir glauben, dass sie gegen die Menschenwürde verstoßen. Und sicher hätte nicht jeder Vertreter der AfD auf dem Kirchentag etwas zu suchen. Ich rate aber, eines nicht zu unterschätzen: In vielen und bestimmten Kreisen beider christlicher Kirchen gibt es leider auch Zustimmung zur AfD. Auch deshalb gehört so etwas als Debatte auch auf den Kirchentag.
epd: Ein inhaltlicher Schwerpunkt des Kirchentags wird das Reformationsjubiläum. Haben die Ereignisse vor 500 Jahren noch eine aktuelle Botschaft?
de Maizière: Die Reformation war ein epochales Ereignis. Sie hat die Weltgeschichte verändert, nicht nur wegen der Spaltung der christlichen Kirche, sondern wegen der Verbindung einer geistigen und einer technischen Entwicklung, die zu gewaltigen Veränderungen geführt hat. Ein anderes Verständnis der Bibel und der Buchdruck haben zusammen Technik und Politik verändert. Ich will das nicht komplett vergleichen, aber dass jetzige technische Veränderungen - die Digitalisierung und die Erarbeitung künstlicher Intelligenz - auch geistige und politische Veränderungen mit sich bringen, davon bin ich überzeugt. Außerdem hat Luther den Weg bereitet für die Trennung zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Regiment. Wie wichtig das für das friedliche Zusammenleben der Menschen ist, sehen wir an Staaten, in denen sich Religion neben oder gar vor die staatlichen Akteure stellt.
epd: In Ihrem Beitrag für eine deutsche Leitkultur haben Sie die christliche Prägung hervorgehoben. Ist Luther Leitkultur?
de Maizière: Ich will in diesem Punkt nicht unterscheiden zwischen katholisch und evangelisch. Es geht mir um die christliche Prägung generell. Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Rhythmen unseres Jahres von kirchlichen Feiertagen bestimmt werden, dass man bei Fahrten übers Land als erstes die Kirchtürme von Ortschaften sieht und die Sonntagsruhe einen Rhythmus in unser Arbeitsleben gebracht hat, der uns gut tut. Das sind kulturelle Prägungen, die eine einende Wirkung haben.
epd: In Ihrem Leitkultur-Beitrag schreiben Sie außerdem: "Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark." Wenn Sie nun eine Debatte darüber für notwendig halten: Heißt das im Umkehrschluss, wir sind derzeit schwach?
de Maizière: Nein. Aber Identität ist nach meiner Überzeugung eines der aktuellen großen Themen. Wenn die Welt unübersichtlicher wird, die Globalisierung uns herausfordert, viele Flüchtlinge zu uns kommen, sich bestimmte Gewissheiten wie Europa oder das Verhältnis zu den USA zu verändern beginnen, dann steigt die Unsicherheit.
epd: Wie meinen Sie das?
de Maizière: Die objektive Lage ist in Deutschland so gut wie lange nicht, von der Wirtschaft über den staatlichen Haushalt bis zur sozialen Situation, bei aller Ungleichheit und allen Problemen, die noch zu lösen sind. Gleichzeitig ist aber die Unsicherheit hoch, ob es so bleibt. Eine der Quellen für diese Unsicherheit ist nach meiner Analyse zu wenig Selbstvergewisserung darüber, wer wir sind und was wir sein wollen. Deswegen ist Selbstvergewisserung in unsicheren Zeiten etwas, was wir brauchen. Darüber müssen wir debattieren. Wer selbstbewusst ist, ist viel besser in der Lage, souverän und selbstsicher mit Veränderungen umzugehen.
epd: Brauchen wir nicht eher eine Debatte über europäische Leitkultur? Viele Politiker - auch Sie - beklagen derzeit die mangelnde Solidarität in der EU, warnen vor dem Zerfall Europas.
de Maizière: Das eine schließt das andere nicht aus. Ich habe in meinen Thesen gesagt, wir sind vielleicht das europäischste Land Europas. Wir sind sehr geprägt durch die europäische Geschichte, haben ein wunderbares Verhältnis zu unserem Nachbarn Frankreich. Es gibt gemeinsame europäische Kulturelemente wie eine Musiktradition, die anders ist als die asiatische oder amerikanische. Ich glaube aber nicht, dass es richtig ist, dass eine nationale Identität völlig aufgeht in der europäischen. Sie sind zum Teil identisch - aber eben auch nur zum Teil.
epd: Am Freitag - auch während Sie auf einem Podium sitzen - wird es auf dem Kirchentag eine Schweigeminute für die im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge geben. Was geht in Ihnen als Christ vor, wenn Sie Berichte darüber hören? Und denkt der Politiker anders?
de Maizière: Das Sterben im Mittelmeer ist unerträglich, genauso wie das Sterben in der Wüste: Die Toten dort zählt niemand. Worüber wir streiten ist der richtige Weg, um dieses Sterben zu beenden. Da gibt es die eine Position zu sagen, man darf oder muss alle nach Europa holen, die es wollen. Andere - wie ich - sagen, die entscheidende Instanz über die Frage, wer nach Europa kommen darf, sind im Moment kriminelle Schleuser und das Portemonnaie des Flüchtlings. Das aber ist die inhumanste Form der Auswahlentscheidung. Deswegen muss man das Geschäftsmodell der Schleuser zerstören, indem man nicht diejenigen in Europa lässt, die mit Schleppern kooperieren, sondern nur die Schutzbedürftigen, die man am besten selbst über sogenannte Resettlement-Programme nach Europa holt.
epd: Vor zwei Jahren haben Sie mit den Kirchen ums Kirchenasyl gestritten. In der Folge wurde ein neues Verfahren eingeführt. Hat es sich bewährt?
de Maizière: Ja, das Verfahren hat sich bewährt. Ich finde die Zahlen trotzdem noch zu hoch. Bei manchen Fällen, in denen es um die Rückschiebung in ein anderes EU-Land geht, verbirgt sich dahinter die grundsätzliche Ablehnung des sogenannten Dublin-Systems und nicht eine ganz besonders hohe Sorge um den Einzelfall.