DOMRADIO.DE: Frau Nolden, Sie beschäftigen sich seit über 20 Jahren mit dem Thema Trauerarbeit und -begleitung, haben dafür sogar "TrauBe", einen Verein, der Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bei der Trauerbewältigung helfen soll, gegründet. Wie kamen Sie auf das Thema "Trauer am Arbeitsplatz"?
Nicole Nolden (Qualifizierende Trauerbegleiterin und Geschäftsführerin von trauerkultur³): Ich leiste gerne Pionierarbeit. Und beim Thema "Trauern" gibt es einfach in ganz vielen gesellschaftlichen Bereichen noch großen Handlungsbedarf. So kam es, dass ich 2011 "TrauBe" ins Leben gerufen habe, weil ja auch die Jüngsten mit Sterben und Tod konfrontiert werden, sie aber lange Zeit nicht im Blick waren. Vorher hatte ich schon das Ehrenamt im Dr. Mildred-Scheel-Haus, dem Zentrum für Palliativmedizin der Uni Köln, aufgebaut. Später habe ich ein bundesweites Schulprojekt, das vom Bundesfamilienministerium unterstützt wurde, etabliert und es zehn Jahre lang geleitet, um Lehrer, aber auch Schüler auf den Umgang mit dem Ernstfall vorzubereiten und sie zu qualifizieren. Hier geht es vor allem um Prävention an Schulen, wenn die Altersgruppe der Teenager mit Sterben, Tod und Trauer konfrontiert wird und Lehrer – oft ruft man dann ja vor allem nach den Religionslehrern – völlig überfordert mit der Situation sind.
Vor ein paar Jahren wurde ich gefragt, ob ich bei AXA eine Arbeitsgruppe von Mitarbeitenden coachen könne, die das Thema "Trauer am Arbeitsplatz" angehen wollte. Hintergrund war, dass der Lebenspartner einer Mitarbeiterin verstorben war und sie aus eigener Betroffenheit ein großes Interesse daran hatte, den angemessenen Umgang mit Trauer an ihrem Arbeitsplatz anzugehen – was letztlich ja beiden Seiten zugute kommt. Die Mitarbeitenden bekommen Unterstützung und bleiben bei diesem schwierigen Thema nicht auf sich allein gestellt, und der Betrieb nimmt seine Fürsorgepflicht wahr und investiert gleichzeitig in seine Mitarbeiterbindung.
Denn wer sich gesehen fühlt und große Achtsamkeit und Rücksichtnahme erfährt, identifiziert sich ja auch positiv mit seinem Arbeitgeber. Das fördert seine Loyalität und Motivation. Jedenfalls habe ich im Kontext meines Workshops gesehen, wie groß der Bedarf zu diesem Thema ist. Firmen haben zwar zunehmend die seelische und körperliche Gesundheit ihrer Mitarbeitenden im Blick, wenn sie Rückenschulungen, Ernährungsprogramme oder Präventionsmaßnahmen zu Suchtproblematiken oder sexuellem Missbrauch anbieten. Aber dass jeder Arbeitgeber früher oder später auch mit Tod und Trauer konfrontiert wird, hat niemand so wirklich auf dem Schirm.
DOMRADIO.DE: Es muss ja auch nicht immer gleich ein tragischer Unglücksfall sein, Trauer hat bekanntlich viele Gesichter…
Nolden: Absolut. Und dann ist es gut, darauf vorbereitet zu sein. Manche Menschen sind ja auch nur mittelbar mit den Themen Tod und Trauer befasst, wenn ich da an die Bankangestellte denke, bei der der Witwer das Konto seiner Frau auflösen will, aber während des Gesprächs plötzlich in Tränen ausbricht. Oder wenn dem Immobilienmakler ein Haus zum Verkauf angeboten wird, weil es für den übrig gebliebenen Partner zu groß geworden ist, das aber für die Hinterbliebenen auch ein Stück Heimatverlust bedeutet und es bei der Schlüsselübergabe zu einem unerwarteten Drama kommt. Auch eine Scheidung oder eine betriebsbedingte Kündigung können akute Trauer auslösen, selbst wenn diese Art des Trauerns für das soziale Umfeld nicht immer vordergründig wahrnehmbar ist.
DOMRADIO.DE: Was sind denn die klassischen Situationen, bei denen ein Unternehmen "Trauer am Arbeitsplatz" begegnet und in seiner Fürsorgepflicht, wie Sie sagen, gefordert ist?
Nolden: Was einen richtigen Prozess von Trauerarbeit in Gang setzt und wofür es gute Unterstützungswerkzeuge geben sollte, ist natürlich der plötzliche Tod eines Kollegen oder einer Führungskraft, der das betroffene Team zunächst handlungsunfähig macht, weil der Schock tief sitzt. Mir ist schon passiert, dass in einer Abteilung gleich vier Mitarbeiter in kürzester Zeit hintereinander verstorben sind. Oder es gibt die werdende Mutter, die sich auf ihr Kind freut, aber eine Fehl- oder Totgeburt erleidet. Da ist der Mittfünfziger, eigentlich ein cooler Typ und immer zu Späßen aufgelegt, dessen Vater nun zunehmend dement bzw. zum totalen Pflegefall wird, oder die freundliche Kollegin aus der Buchhaltung, die aufgrund ihrer Krebserkrankung nun mit einer Perücke zur Arbeit erscheint und nicht weiß, ob sie den alltäglichen Anforderungen ihres Jobs noch gewachsen ist. Oft beginnt Trauer schon bei der Diagnosestellung, denn ein ursprünglich gedachter Lebensentwurf kann nun nicht mehr realisiert werden. Auch den Tod eines geliebten Hundes darf man nicht belächeln. Für manche Menschen ist dieser Schmerz genauso unerträglich, und es dauert lange, bis sie sich wieder fangen und normal einsatzfähig sind.
DOMRADIO.DE: Welche Unterstützung können Sie da mit Ihrer langjährigen Erfahrung anbieten?
Nolden: Wir analysieren genau die Situation und begleiten dann ganz individuell, eben weil die Menschen so unterschiedlich sind und auch jeweils etwas ganz Unterschiedliches brauchen. Mit dem Tod eines Mitarbeiters geht jeder anders um: Da gibt es die, die nach "Business as usual" verfahren, also weiterarbeiten, weil ihnen Gewohnheit eine Art Schutzraum bietet, es nach außen aber so wirkt, als pralle alles an ihnen ab. Anderen hilft, über ihre Gefühle zu sprechen; sie brauchen einen Adressaten, um sich mitteilen zu können. Wieder andere verfallen in eine Schockstarre und können sich nicht mehr konzentrieren. Immer kommen sie an dem leeren Stuhl vorbei, auf dem gestern noch der Kollege gesessen hat.
Und Führungskräfte, die unter Umständen selbst auch trauern, müssen mit allen diesen Gefühlen und Bedürfnissen umgehen. Das stellt sie vor große Herausforderungen. Denn sie sollen sich ums Team kümmern, brauchen aber unter Umständen auch selbst Hilfe. Da stellen sich viele Fragen, zum Beispiel: Wie kommuniziere ich überhaupt einen Trauerfall? Wie spreche ich mit den Angehörigen? Gehe ich zur Beerdigung? Oder: Wie lässt sich ein Erinnerungsplatz in einer agilen Arbeitswelt schaffen? Da müssen von jetzt auf gleich ganz neue Rituale her, um einen Menschen nicht zu vergessen und allen die Möglichkeit einzuräumen, ohne schlechtes Gewissen die Arbeit fortsetzen zu können und sich nicht schuldig zu fühlen, wenn man den Normalbetrieb wieder aufnimmt. All das aber muss besprochen und vereinbart werden. Trauer ist wie ein Marathonlauf und bedeutet enorme Erschöpfung, Konzentrationsprobleme, anhaltende Niedergeschlagenheit.
Deshalb bieten wir innerhalb der Begleitung immer auch einen Reflektionstag an, bei dem wir erklären, wie unterschiedlich Trauer ablaufen kann, um innerhalb eines sehr heterogenen Kollegiums ein Verständnis für den jeweils anderen zu wecken. So kann unter Umständen die Krise auch zur Chance werden.
DOMRADIO.DE: Wie meinen Sie das?
Nolden: Trauer ist eine totale Ohnmachtssituation, in der viel infrage gestellt wird – auch, ob ich diesen Job überhaupt noch machen will. Und alle schauen immer auf die Leitung. Warum überhaupt hatte der Kollege seinen Herzinfarkt? Arbeite ich selbst nicht auch viel zu viel? Alle Ohnmachtserlebnisse werden durch einen Todesfall getriggert. Deshalb ist es wichtig, mit den trauernden Mitarbeitern achtsam umzugehen, was aber natürlich ganz schwierig ist, wenn ich selbst mitbetroffen bin. Trauer ist Privatsache, heißt es immer gerne. Sie lässt sich aber nicht auf Knopfdruck ausstellen, von daher nimmt man sie natürlich auch mit ins Büro. Also stellen sich Fragen wie: Kann die Arbeit vielleicht umverteilt werden, um Rücksicht auf den entsprechenden Mitarbeiter zu nehmen? Oder: Kann es eine innerbetriebliche Vereinbarung geben, dass er für eine Woche ganz vom Dienst befreit wird und sich erst einmal die Zeit nimmt, die er braucht? Ihm flexible Arbeitszeiten oder Homeoffice anzubieten nimmt vielleicht erst einmal den Druck raus. Laut Gesetzgeber stehen ihm bei einem Todesfall in der Familie zwei Tage "Sonderurlaub" zu. Hier ist ja allein schon der Begriff fragwürdig. Wenn sich das eigene Kind suizidiert hat, klingt das wie Hohn.
Wie gesagt, auch die Kommunikation ist ein wichtiger Aspekt: Wie kann man jemanden auf seine Trauer angemessen ansprechen – da gibt es zum Beispiel einen ganzen Katalog an „No go-Sätzen. Wie ihm ein echtes Gefühl der Anteilnahme mit wertschätzendem Verhalten vermitteln und ihn nicht zunehmend isolieren, indem man ihn "in Ruhe" lässt? Tatsache ist, in dem Moment, in dem die Trauer mit ins Büro genommen wird, ist sie nicht mehr totzuschweigen.
DOMRADIO.DE: Betriebe spielen in der Gesellschaft im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zu Sterben, Tod und Trauer eine zentrale Rolle, weil die Menschen nun mal einen Großteil ihrer Zeit bei der Arbeit verbringen. Welche Instrumente braucht es, um hier sensibler zu werden bzw. ein Umdenken zu erreichen?
Nolden: Die Rolle, die Unternehmen beim Thema "Trauer" spielen, ist nicht zu unterschätzen. Es stellt sich die Frage, was jeder Einzelne an Trauerkultur einbringen kann. Der eine sagt: Jetzt reißen wir uns alle mal zusammen! Ein anderer aber benötigt ein hohes Maß an Sensibilität. Schwierig wird es, wenn jeder es so macht, wie er es gewohnt ist, es keine einheitliche Linie gibt. Deshalb ist es gut, für solche Situationen einen "Werkzeugkoffer", wie ich das gerne nenne, vorzuhalten: mit klaren Regelungen und Absprachen. Das gibt Sicherheit und hilft bei Sprachlosigkeit und Überforderung. Es sollten Kommunikationsfäden und schriftliche Orientierungshilfen entwickelt werden.
Einer Führungskraft kommt in der Krise Vorbildfunktion zu. Alle richten sich auf den, der das Sagen hat. Deshalb ist es hilfreich, vertrauensvolle Ansprechpartner in einem Betrieb zu benennen, sogenannte "Scouts", die im Falle eines Falles "Erste Hilfe" leisten können; jemand, der weiß, wie man mit Trauer umgeht. Oder aber man holt sich Trauerbegleiter von außen. Erfahrungsgemäß steigt ein Mitarbeiter, der gut in seiner Trauer begleitet wird, auch schneller wieder in die Arbeit ein. Tatsache ist, Trauer geht jeden etwas an. Wir können warten, bis es uns trifft, oder aber uns vorbereiten. Ich würde mich immer für letzteres entscheiden.