"Wir tragen Ihre Asche heute zu Grabe, begleiten Sie auf Ihrem letzten Weg. Wir wissen nicht viel von Ihnen; nur dass Sie 1925 in Breslau geboren wurden, dort Ihr Zuhause, Ihre Heimat hatten, ein langes Leben hinter sich haben und bald 95 Jahre alt geworden wären." Marianne Ricking hält inne. Die zierliche Frau in dem weißen liturgischen Gewand zitiert aus einem Brief an die Verstorbene, über die sie bis auf wenige Eckdaten, die sie vom städtischen Ordnungsamt bekommen hat, fast nichts weiß. Dann fügt sie mit Bedacht ihrem Vortrag eine weitere Vermutung hinzu. "Mit großer Wahrscheinlichkeit befanden Sie sich mit den Vielen auf der Flucht, waren im, während oder nach dem Krieg mit großen Entbehrungen unterwegs..." Die schriftliche Vorlage dient ihr als Stütze und hilft einfühlsam darüber hinweg, dass ein Mensch – unbemerkt von seiner Umgebung und ohne jeden Kontakt zur Außenwelt – gestorben ist und von daher kaum etwas über ihn bekannt ist.
Ricking selbst hat diesen Brief geschrieben und liest ihn nun – nach einem Bibeltext aus dem Johannes-Evangelium – am offenen Grab vor: "Wir wissen nicht, ob Sie Kinder hatten, seit wann Sie verwitwet waren und wie lange Sie Ihren Weg schon alleine gehen mussten… Heute nehmen wir die Urne mit Ihrer Asche in unsere Mitte und sagen stellvertretend Danke für alles das, was Sie sicher eingebracht haben bei den Menschen, die Ihnen wichtig waren, die Sie geliebt und die – umgekehrt – Ihnen vertraut haben." Mit ruhiger Stimme spricht sie noch ein Segensgebet und fügt mit fast zärtlichem Tonfall abschließend hinzu: "Zum Paradies mögen Engel Dich begleiten." Dann ist es still. Nur noch das Vogelgezwitscher in den herbstlich gefärbten Baumkronen bleibt vernehmbar. Der letzte Schritt dieses Abschieds wird schweigend vollzogen. Die Feier endet genauso würdevoll, wie sie begonnen hat.
"Sterbende begleiten ist Aufgabe der ganzen Gemeinde"
Es ist eine kleine, aber feine und vor allem sehr persönliche Zeremonie, die die ehrenamtliche Bestattungsbeauftragte der Kölner Pfarrgemeinde St. Severin auf dem Südfriedhof gestaltet hat. Und obwohl die Verstorbene keine Angehörigen hatte, schart sich eine beachtliche Zahl an Trauergästen um das kleine Grab, die den berührenden Worten Rickings aufmerksam zugehört haben. Etwa 15 Gemeindemitglieder geben der unbekannten Toten das letzte Geleit – mit einer Rose in der Hand. Die Blumen sollen ein Zeichen dafür sein, dass niemand im Tod vergessen ist – auch wenn er schon viele Jahre seines Lebens ohne jedes soziale Netz gelebt hat. Am Grab, so finden diese Menschen, solle sich die erschütternde Einsamkeit dieser Frau nicht fortsetzen. Deshalb stehen sie Ricking bei ihrem seelsorglichen Dienst zur Seite.
In den letzten zwei Jahren hat die pensionierte Kita-Leiterin schon einige solcher Beerdigungen, bei denen es keine trauernden Verwandten oder Freunde gab, gefeiert. Auch Obdachlose waren darunter, die niemanden mehr hatten, der ausfindig gemacht werden konnte, und bei denen sich dann ebenfalls die Stadt um die Beerdigung kümmert und Kontakt zur Kirche aufnimmt. "Dass Sterbende begleitet, Trauernde nicht allein gelassen und Tote würdevoll bestattet werden, gehört zu den Grundvollzügen unseres Glaubens und ist eine Aufgabe der ganzen Gemeinde", findet Ricking, die seit 40 Jahren im Pfarrbezirk von St. Severin lebt. Als Ruheständlerin übt sie gleich mehrere kirchliche Ehrenämter gleichzeitig aus. Zuletzt hat sie eben auch noch die Ausbildung zur ehrenamtlichen Bestattungsbeauftragten beim Bistum absolviert.
Glücklich über die neue Aufgabe
Dabei konnte sie noch einmal sehr viel über den Umgang mit Sterben, Tod und Trauer lernen, praxisbezogene Tipps bekommen. Doch christliche Rituale mit Leben füllen, der Form einen Inhalt geben – das ist ihr noch aus ihrer Zeit als Ordensfrau – die 69-Jährige gehörte bis 1994 den "Schwestern der christlichen Liebe" an – allzu vertraut. "Früher habe ich Kindern auf ihrem Weg ins Leben hinein geholfen, heute assistiere ich Menschen bei ihrem Schritt aus dem Leben hinaus", stellt sie fest. "Das ist eine völlig neue, aber genauso erfüllende Erfahrung. Beide Perspektiven lassen mich das Leben, auf das ich immer neugierig war, in seiner Gesamtheit erfahren", schätzt sich Ricking angesichts der neuen Aufgabe glücklich.
Denn schon immer hat sie gerne Menschen begleitet – auch auf ihrem letzten Weg – und dafür an manchem Sterbebett gesessen. "Das war mir nie unheimlich. Im Gegenteil: Dieser Dienst ist zutiefst meins. Selbst wenn ich nicht weiß, was jemand im Koma noch hört, spreche ich mit ihm, mache aber auch Pausen, um mich in den Sterbenden hineinzudenken." Dabei frage sie sich oft: Wie hat wohl dieses Leben ausgesehen? Und gibt sich selbst Antworten – mithilfe der wenigen Anhaltspunkte, die sie manchmal hat: Geburtsdatum und -ort, vielleicht sogar noch ein wenig zu den Lebensumständen. Außerdem, so meint sie, sei Sterbebegleitung eine gute Übung, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen.
Den Verstorbenen noch einmal lebendig werden lassen
Aushalten, da bleiben und sich kümmern, wenn es sonst niemanden mehr gibt, der dem Sterbenden nahe steht – so macht Ricking es bis heute. Und wenn es nach ihr geht, soll jeder, der dann einsam stirbt, auch ein individuelles Begräbnis bekommen. Und keine Traueransprache mit Allgemeinplätzen. "Trost aus der Schublade gibt es bei mir nicht", beteuert sie. Und auch, dass jede Beerdigung anders sei und sie keinem festgelegten Muster folge. "Wichtig ist mir, den Verstorbenen noch einmal in den Mittelpunkt zu rücken und seine Würde zu achten, selbst wenn ich nicht viel von ihm weiß." Dann versuche sie, "ein Stückchen Leben aufzunehmen", wie sie das nennt, etwas zum "Aufhänger" zu machen, was den Toten persönlich sehr betrifft, ihn ausgemacht hat. Und sei es eine noch so kleine Begebenheit, die sich mit dem Verstorbenen verbinden lässt. Zum Beispiel ein Lied, aber auch ein außergewöhnlicher Ort, ein Hobby oder eine andere Vorliebe.
"Mir geht es nicht darum, Daten aufzuzählen, sondern ein besonderes Moment, das diesen einzigartigen Menschen geprägt hat, aufzugreifen und ihn noch einmal für andere lebendig werden zu lassen." Das sei nicht immer leicht. "Manchmal ist da nichts, null. Keinerlei Information. Dann höre ich solange hin, bis ich etwas finde, und vertraue auf mein Gespür", lächelt die Ehrenamtlerin vielsagend.
Ein pastoral unverzichtbarer Dienst
"Keiner geht allein" – unter diesem Motto ist im Pfarrgemeinderat von St. Severin vor mehr als zehn Jahren die Idee entstanden, eine Begräbnisgemeinschaft aus Freiwilligen zu bilden. "Immer wieder kam es vor, dass ein Seelsorger alleine hinter dem Sarg oder einer Urne herging", erinnert sich Ingrid Rasch, Vorsitzende des Caritas-Ausschusses "Soziales und Senioren". Der Aufruf zur Beteiligung an einer solchen Initiative habe großes Echo gefunden. Erst hätten sich zehn gemeldet, heute würden fast 20 Gemeindemitglieder mit ganz unterschiedlich starker Kirchenbindung für eine letzte Wegbegleitung zur Verfügung stehen. In der vergangenen Woche hat mittlerweile die 76. Beerdigung dieser Art stattgefunden. Organisiert werden die jeweiligen Einsätze von Rosemarie Amberge, 83, die vom Pfarrbüro im Falle einer "einsamen" Beerdigung informiert wird und dann eine Telefon-Stafette startet.
Die geradezu greifbare Isolation vieler Menschen in der Südstadt, die nicht einmal unbedingt alt sind, empfindet Ingrid Rasch als erschreckend. Und als "unsäglich" bezeichnet sie, wenn Menschen ohne jede Anteilnahme oder Begleitung zu Grabe getragen werden. Sie versteht dieses Gemeindeprojekt daher als einen pastoral unverzichtbaren Dienst. "Natürlich konfrontiert uns eine solche Bestattung immer auch mit der Frage: Warum haben wir dieses Alleinsein, hinter dem sich vielleicht eine große Not verborgen hat, nicht schon früher wahrgenommen? Hätte in diesem Fall nicht der Pfarrbesuchsdienst ein Stück Linderung bringen können?", reflektiert Rasch selbstkritisch. Schließlich zeige sich hier ganz ungeschminkt die schmerzhafte Erfahrung eines Menschen, nicht in einer Gemeinschaft aufgehoben gewesen zu sein.
Kein Leben ist ohne Bedeutung und Wert
"Umso dichter", beobachtet die 75-Jährige, "ist dafür jedes Mal die Atmosphäre bei der kleinen schweigenden Prozession über den Friedhof." Auch wenn sich einem optisch oft ein karges Bild biete – so ganz ohne Kränze oder üppigen Kerzenschmuck – vollziehe sich das Totengedenken mit großer innerer Intensität. "Als Kirche liegt uns am Herzen", betont Rasch, "den letzten Weg eines Menschen, um den scheinbar niemand trauert, mitzugehen." Mit dieser Begleitung werde die Vorstellung durchkreuzt, ein Leben könne ohne Bedeutung und Wert sein, nur weil es am Ende einsam war. "Auch dann, vor allem dann gilt die Botschaft von einem liebenden Gott, bei dem jeder seine letzte Geborgenheit findet."