Nach dem versuchten Militärputsch in der Türkei sieht die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan die Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen als Drahtzieher. Noch in der Nacht zum Samstag kündigte der Präsident vor Journalisten an, die Verantwortlichen würden einen hohen Preis zahlen. Die Gülen-Bewegung reagierte unmittelbar. In einer Erklärung, aus der Medien am Samstag zitieren, weist sie jede Verantwortung für den Putschversuch von sich. Seit 40 Jahren setze sie sich für Frieden und Demokratie ein, heißt es.
Hohe Stellung im türkischen Islam der Gegenwart
Fethullah Gülen, einst enger Verbündeter und Unterstützer Erdogans, gilt als Erzfeind des Präsidenten. Zuletzt forderte die Türkei zu Jahresbeginn von den USA die Auslieferung des Predigers - vergeblich. In Abwesenheit wurde ihm der Prozess gemacht. Der Vorwurf: Gülen soll staatliche Instiutionen unterwandert und einen Putsch vorbereitet haben. Im Mai ließ der Präsident die Gülen-Bewegung als terroristische Vereinigung einstufen und ihre Anhänger damit politisch mundtot machen. Seitdem trat sie nicht mehr öffentlich in Erscheinung.
Doch wer ist der Mann, der seit Jahren als schärfster Widersacher Erdogans gehandelt wird? Mit dem grauen Schnäuzer, dem Haarkranz und der sanften Stimme wirkt der 75-Jährige wie der gemütliche anatolische Großvater. Dabei hat Gülen großen Einfluss im türkischen Islam der Gegenwart.
Gülen steht an der Spitze einer in 140 Ländern präsenten Gemeinschaft von bis zu 8 Millionen meist türkischen Anhängern. Der wahrscheinlich 1941 nahe der Stadt Erzurum in Ostanatolien geborene Prediger lebt seit 1999 in den USA. "Hizmet" (Dienst), wie sich die in den 1960er Jahren in der Türkei begründete Bewegung nennt, ist in Deutschland Experten zufolge die am schnellsten wachsende Strömung unter den Bürgern mit türkischen Wurzeln. Seinen Anhängern gilt der "Hodscha Efendi", der "ehrenwerte Lehrer", als Schlüssel zum Verständnis des Koran. Andere sehen ihn als islamistischen Wolf im Schafspelz. Auch von deutschen Politikern kamen in der Vergangenheit kritische Töne.
Schulen statt Moscheen
Neben interreligiösem Dialog, Frömmigkeit und guten Taten fordert Gülen vor allem eins: Bildung, Bildung, Bildung. "Baut Schulen statt Moscheen!", heißt die Parole - auch in Deutschland mit seiner großen türkischen Gemeinde. Aktuell unterhält die Bewegung hier mehr als 300 Kultur- und Bildungsvereine sowie fast 30 Schulen.
Was will Gülen? Vor allem Einfluss in der Türkei. Dort betreiben Fethullacis bereits Universitäten, Medienbetriebe, Stiftungen, Banken und Unternehmen. Insgesamt soll die Bewegung über ein Vermögen in Milliardenhöhe verfügen. Zudem finanziert sie sich nach eigenen Angaben über Spenden der Mitglieder.
Gülens Anhänger bezeichnen ihre Organisation als humanistisches Netzwerk. Hinter der Mischung aus Massenbewegung, Wirtschaftsimperium und Medienmacht vermuten die Kritiker dagegen eine versteckte Agenda zur "Islamisierung der Moderne". Unter dem Lack dialogreicher Verkündigungen des "anatolischen Gandhi" verberge sich der Rost einer zutiefst traditionalistischen Koranauslegung. So rechtfertigte Gülen schon mal die Todesstrafe für Religionswechsler, pries den Dschihad, relativierte die Frauenrechte oder warf Christen und Juden eine Verfälschung der göttlichen Botschaft vor.
"Der Präsident ist an der Macht"
Experten zufolge verfügt Gülen über gute Kontakte zur extremen Rechten in der Türkei sowie auch zu Teilen der politischen Elite. Bereits 1998 hatte die türkische Regierung Gülen wegen eines Videos angeklagt, auf dem er seine Anhänger zur Unterwanderung der Institutionen aufruft. Der Hodscha sprach von Manipulationen durch seine kemalistischen Gegner und wich in die USA aus.
Nun erhebt Erdogan erneut massive Vorwürfe. Doch die Lage ist unübersichtlich, Informationen fließen nur spärlich. Gerüchte, nach denen die türkische Regierung den Putsch selbst initiiert haben könnte, um in dem Land endgültig ein Präsidialsystem zu errichten, machen die Runde. Halbwegs sicher scheint vorerst nur eins: "Der Präsident ist an der Macht", wie Erdogan noch in der Nacht am Atatürk-Flughafen verkündete.
Christoph Schmidt und Inga Kilian