Ukrainischer Hilfskoordinator verteidigt Waffenlieferungen

"Es geht um die Freiheit"

Am Morgen des 24. Februar 2022 begann das russische Militär seine Angriffe auf die Ukraine. Jetzt nähert sich der traurige Jahrestag: Wie geht es den Ukrainerinnen und Ukrainern ein Jahr nach dem Beginn des Krieges?

Ukraine-Krieg - Gebiet Donezk / © Libkos/AP (dpa)
Ukraine-Krieg - Gebiet Donezk / © Libkos/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie koordinieren die Hilfslieferungen, die in die Ukraine gehen. Was machen Sie da genau? Wo gehen die Hilfen hin?

Andrij Waskowycz / © Julia Steinbrecht (KNA)
Andrij Waskowycz / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Andrij Waskowycz (Ehemaliger Präsident der Caritas Ukraine; Leiter des Büros für die Koordinierung humanitärer Initiativen des Weltkongresses der Ukrainer): Vor allen Dingen koordinieren wir Hilfen, die von der ukrainischen Diaspora kommen, also von Organisationen der Ukraine im Ausland.

Das bezieht sich vor allen Dingen auf Amerika, auf Kanada oder Australien, aber auch Europa. Ukrainer sind nach dem Zweiten Weltkrieg ins Ausland gegangen, in Länder der westlichen Welt, und haben dort Organisationen gegründet. Sie unterstützen heute die Ukraine im humanitären Bereich und im militärischen Bereich, denn sie geben, liefern und organisieren für die Ukraine Schutzausrüstung. Es gibt verschiedene Bedarfe für die ukrainischen Soldaten, die heute im Kampf um die Wahrung der Unabhängigkeit der Ukraine stehen.

Andrij Waskowycz (Leiter des Büros für die Koordinierung humanitärer Initiativen des Weltkongresses der Ukrainer)

"Die Ukrainer sind standfest in ihrer Überzeugung, dass sie das Land verteidigen müssen. Denn es geht um ihr Überleben."

DOMRADIO.DE: Sie stehen ständig in Kontakt mit Menschen vor Ort im Kriegsgebiet. Was wissen Sie darüber? Wie geht es den Leuten dort jetzt?

Waskowycz: Das Kriegsgebiet hat sich natürlich ausgeweitet auf die gesamte Ukraine. Es gibt Bombardierungen der Städte, vor allen Dingen der Infrastruktur. Die Ukrainer spüren natürlich, dass der Krieg ganz nahe an die Teile des Landes gekommen ist, die bisher von Kriegshandlungen verschont waren.

Das begann am 24. Februar letzten Jahres, als Russland mit einem massiven Vorstoß die Ukraine angegriffen und Städte bombardiert hat. Das war für große Teile des Landes ein enormer Schock.

Zerstörung in der ukrainischen Stadt Charkiw / © Andrew Marienko (dpa)
Zerstörung in der ukrainischen Stadt Charkiw / © Andrew Marienko ( dpa )

Heute haben sich die Menschen erstaunlicherweise daran gewöhnt, dass ihre Städte bombardiert werden. Und es gibt einen Unterschied zwischen Menschen, die in den Städten leben, die stark bombardiert werden, wie die ostukrainische Stadt Charkiw, wo Teile der Stadt vollkommen zerstört wurden. Ganz zu schweigen von Mariupol, wo die Menschen auch wirklich diese Bombardierungen und die Zerstörung um sie herum miterleben. Und gibt es Städte, die davon bedroht sind, zerstört zu werden. Die westukrainischen Städte zum Beispiel, wo die Menschen diese Gefahr spüren. Aber natürlich sind dort die Bombardierungen schwächer, nur einzelne Objekte werden dort bombardiert.

Dann kommt der zweite Moment, der ganz wichtig ist, der in der ganzen Ukraine eine Rolle spielt. Das ist die Zerstörung der Basisinfrastruktur der Städte, der Stromversorgung, der Wasserversorgung, der Wärmeversorgung im Winter. Das sind alles Vorhaben Russlands, die Menschen in die Knie zu zwingen, zur Kapitulation zu zwingen. Und erstaunlicherweise kann und wird dieses Vorhaben nicht zum Erfolg führen. Denn die Ukrainer sind standfest in ihrer Überzeugung, dass sie das Land verteidigen müssen. Denn es geht um ihr Überleben.

DOMRADIO.DE: Als der Krieg vor einem Jahr begonnen hat, schwebte Putin so eine Art Blitzkrieg vor. Dass dieser jetzt schon ein Jahr dauert, hatte er wohl nicht erwartet. Hätten Sie sich vor einem Jahr vorstellen können, dass es Bilder wie die aus Butscha geben würde, wo die Russen wirkliche Massaker an den Menschen verübt haben?

Waskowycz: Erstaunlicherweise habe ich es mir vorstellen können. Erstaunlicherweise habe ich es erwartet, denn ich kenne die ukrainisch-russische Geschichte sehr gut. Die Ukraine ist nicht im ersten Krieg mit Russland. Der ehemalige ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko hat einmal bei einer Veranstaltung gesagt: Das ist der 27. Krieg zwischen der Ukraine und Russland, zwischen dem Bestreben Russlands, die Ukraine zu beherrschen oder gar zu vernichten, wie es heute der Fall ist.

Ukraine, Butscha: Ein Mann geht an den Überresten eines russischen Militärfahrzeugs in Bucha, nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew, vorbei / © Serhii Nuzhnenko (dpa)
Ukraine, Butscha: Ein Mann geht an den Überresten eines russischen Militärfahrzeugs in Bucha, nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew, vorbei / © Serhii Nuzhnenko ( dpa )

Und deswegen sind diese Grausamkeiten, diese Gräueltaten, absolut zu erwarten gewesen. Wir hatten diese Gräueltaten in der Vergangenheit gesehen und natürlich hat es uns schockiert, weil wir sie heute nahe sehen. Es ist der erste Krieg, der so stark dokumentiert wird, nicht nur durch Reporter, durch Journalisten, sondern durch jeden Teilnehmer des Krieges, der mit seinem Smartphone Aufnahmen machen kann von dem Geschehen, das er vor sich sieht, von der Zerstörung der Städte, von der Brutalität dieses Krieges, von der Brutalität der russischen Truppen in der Ukraine, wie wir sie in Butscha gesehen haben. Aber die Brutalität ist nicht nur auf Butscha beschränkt.

Andrij Waskowycz (Leiter des Büros für die Koordinierung humanitärer Initiativen des Weltkongresses der Ukrainer)

"Es ist ein Krieg Russlands gegen den Rest der Welt."

DOMRADIO.DE: Seit Monaten läuft in Europa, speziell auch in Deutschland, die Diskussion um Waffenlieferungen für die Ukraine. Es gibt immer Menschen, die sagen, dadurch ziehen wir den Krieg nur in die Länge und es gibt noch mehr Tote und Leid. Und die Ukraine kann den Krieg am Ende sowieso nicht gewinnen. Was sagen Sie dazu?

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, hält eine amerikanische Flagge / © J. Scott Applewhite (dpa)
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, hält eine amerikanische Flagge / © J. Scott Applewhite ( dpa )

Waskowycz: Es ist vor allen Dingen jetzt der Zeitpunkt, wo die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann. Denn es ist das erste Mal in der Geschichte der Ukraine, dass das ukrainische Volk in seinem Freiheitsbestreben weltweit unterstützt wird. Die Ukraine kann diesen Krieg und wird diesen Krieg gewinnen mit der Unterstützung der westlichen Welt, mit den Waffenlieferungen, die notwendig sind, um diesen Krieg zu verkürzen, nicht zu verlängern, zu verkürzen und endgültig die Gefahr des russischen Imperialismus auf die Ukraine bezogen, aber eigentlich auf Europa bezogen, zu bannen.

Was wir nicht vergessen dürfen: Es ist kein ukrainisch-russischer Krieg. Es ist ein Krieg Russlands gegen den Rest der Welt. Es ist ein Krieg, der Russlands Imperialismus entfacht hat. Und dieser Imperialismus macht keinen Stopp, wenn sie die Ukraine einnimmt. Deswegen – und ich glaube, viele haben das verstanden – ist es ein Krieg, den wir gemeinsam als freie Welt gegen einen imperialen Staat bestehen müssen.

DOMRADIO.DE: Der Krieg dauert jetzt schon ein Jahr. Beobachten Sie so etwas wie ein Gewöhnungseffekt im Rest Europas und vielleicht auch bei den Menschen, die bislang so solidarisch waren und geholfen und gespendet haben?

Ein erschöpfter Helfer in der Ukraine / © Leo Correa (dpa)
Ein erschöpfter Helfer in der Ukraine / © Leo Correa ( dpa )

Waskowycz: Immer wieder Ja. Und dennoch Nein. Ich sehe schon, die Solidarität hält an. Ich sehe, dass die Solidarität anhält, weil man versteht, um was es geht. Es geht um die Freiheit. Es geht um die internationale liberale Ordnung, um rechtliche Wege, um einem Verstoß gegen das Völkerrecht entgegenzutreten. Das wird heute sehr gut verstanden – überall dort, wo Bevölkerungen es verstehen, dass man nicht einfach Nachbarn angreifen kann, ihnen Territorium abverlangen kann und versuchen kann, andere Völker zu vernichten. Es ist ein Vernichtungskrieg. Dort, wo das Verständnis ist, lässt diese Hilfsbereitschaft, lässt diese Solidarität und die Bereitschaft, Waffen zu liefern, nicht nach.

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Quelle:
DR