Der 79-jährige Priester Ulrich Zurkuhlen hat mit seiner Predigt am ersten Juli-Sonntag in der Heilig-Geist-Gemeinde in Münster einen Eklat ausgelöst. Er warb dafür, einander vergeben zu können, und bezog dies ausdrücklich auch auf Priester, die Minderjährige sexuell missbraucht haben. Zahlreiche Gottesdienstbesucher verließen daraufhin unter Protest die Kirche.
"Es war das erste Mal in meinem 54 Jahre langen Priesterleben, dass ich bei der Predigt von einer Gruppe Protestler/innen niedergeschrien wurde", schreibt Zurkuhlen anschließend auf seiner Homepage. Und verweist auf die biblischen Geschichten, in denen Jesus der Ehebrecherin vergibt und der verlorene Sohn von seinem Vater wieder aufgenommen wird.
"Ich hätte gern begründet, warum ich meine, dass Vergebung zu den Grundaufgaben von Christen gehört und dass es auch keinen anderen Weg zum Frieden gibt."
Theologen ordnen den Fall ein
Müssen Missbrauchsopfer den Tätern vergeben? Diese grundsätzliche Frage stand nach der Sonntagspredigt im Raum. Theologen finden dazu klare Worte. Der leitende Pfarrer der Gemeinde, Stefan Rau, sagte der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), Vergebung sei eine der wichtigsten Kategorien des christlichen Glaubens.
Allerdings habe sich die Kontroverse in der Gemeinde an der Frage entzündet, wer ein Recht auf und wer eine Pflicht zur Vergebung habe. "Ich bin an genau dieser Stelle anders als Pfarrer Zurkuhlen der Meinung, dass man von einem Opfer niemals Vergebung verlangen kann." Kein Mensch habe ein Recht auf Vergebung oder könne sie von Gott verlangen.
Der Jesuit Klaus Mertes, der 2010 als Schulleiter die Aufdeckung der Missbrauchsaffäre in der katholischen Kirche in Deutschland ins Rollen brachte, äußerte sich in einem Beitrag für das Internetportal katholisch.de ähnlich. Für ihn ist ganz klar: "Es gibt kein 11. Gebot: Du (Opfer) sollst (deinem Peiniger/deiner Peinigerin) vergeben". Ein Opfer dürfe ein Leben lang seinen Täter nicht mehr sehen wollen. "Vielleicht ist gerade dies sogar ein Aspekt von 'vergeben', sofern 'vergeben' ein 'weggeben' ist, nach dem Motto: 'Ich überlasse ihn/sie dem Gericht Gottes", fügte Mertes hinzu.
"Opfer sind völlig frei, Vergebung zu gewähren"
Auch Florian Kleeberg, katholischer Theologe aus Münster, der seine Doktorarbeit über Vergebung und Erlösung geschrieben hat, stellt klar: "Die Opfer sind völlig frei, Vergebung zu gewähren. Im Vergebungsgeschehen dreht sich das Machtverhältnis um, das Opfer hält den Schlüssel in der Hand. Eine Aussöhnung kann nur erbeten, sie kann nicht erzwungen werden. Nur das Opfer kann den Täter entschuldigen und so von der Last seiner Schuld befreien."
Sind die Missbrauchsopfer überhaupt in der Lage, ihrem Täter vergeben? Zwar könne Vergebung dem Heilungsprozess des Opfers dienen, sagt Kleeberg. Aber "es gibt eben auch Verbrechen, die den Menschen in der Identität so sehr treffen können, dass sie nicht mehr heil werden. Wenn die Verletzung zu groß ist, ist die Fähigkeit zur Vergebung ausgelöscht. Selbst wenn man das wollte, könnte man es nicht."
Zurkuhlen betont auf seiner Homepage, er habe in der Predigt gesagt, dass er "an der Zeit fände, dass unsere kirchlichen Hierarchen doch auch den Missbrauchs-Tätern irgendwann vergeben würden". Kleeberg wendet ein, dass Zurkuhlen völlig verkenne, wem das Recht zustehe, zu vergeben. Nicht an der kirchlichen Hierarchie hätten sich die Täter vergangen, sondern an Kindern und Jugendlichen.
Bischof Genn spricht Machtwort
Münsters Bischof Felix Genn hat Zurkuhlen in den Ruhestand versetzt. Er darf ab sofort weder öffentlich Gottesdienst feiern noch predigen oder die Beichte abnehmen. Er sei "fassungslos", sagt Genn. "Dass ein Priester bei all dem, was wir inzwischen über sexuellen Missbrauch, gerade auch durch Kleriker, über Täterstrategien und das Leid der Opfer wissen, hingeht und solche Äußerungen tätigt, ist unfassbar."
Der Bischof betonte, dass in einer Predigt zwar das Thema Vergebung aufgegriffen werden könne. "Entscheidend ist aber, wie man das macht."