Was Nadia Murad erzählt, wird einem beim Zuhören erst mit Verzögerung deutlich. Das Publikum im Schleswig-Holstein-Saal des Kieler Landtags wartet am Donnerstagabend auf die Übersetzung - dann kommt das Grauen.
Nadia Murad Tasee Baha, Jesidin aus dem Nordirak und gerade 23 Jahre alt, berichtet mit erstaunlich ruhiger Stimme vom Schicksal zweier Jungen aus ihrem Volk: Nach langer Gefangenschaft beim sogenannten Islamischen Staat (IS) und entsprechender Gehirnwäsche hätten sie sich kürzlich selbst in die Luft gesprengt.
Einsatz für Rechte Überlebender
Murad hat die Tortur der IS-Gefangenschaft überlebt. Heute ist sie Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen (UN) für die Würde der Überlebenden des Menschenhandels. Sie engagiert sich international für Extremismusbekämpfung, tritt ein für die Rechte Überlebender von sexualisierter Gewalt und fordert internationale Aufmerksamkeit für den Genozid an der jesidischen Gemeinschaft.
So auch an diesem Abend in Kiel. Sie erzählt von Hussein, der zum IS gehört. "Er hat mehr als 200 Frauen vergewaltigt" und viele getötet. "Das ist ein Genozid an meinem Volk." Jesiden seien stets friedlich und freundlich gewesen, der IS wolle die religiöse Minderheit auslöschen. Deren Heimat und religiöse Stätten seien zerstört, die Jesiden fühlten sich "in weiten Teilen verlassen".
"Frauen leiden am meisten"
Genozid - Völkermord ist das Stichwort. Unter der Überschrift "Genozid durch den IS-Terror - Was können wir in einer ohnmächtig erscheinenden Zeit tun?" haben die Bischofskanzlei Schleswig, das Frauenwerk und das Christian Jensen Kolleg Breklum der evangelischen Nordkirche gemeinsam mit der Parlamentarischen Gesellschaft eingeladen.
Die Sicherheitsvorkehrungen sind unübersehbar. Nach diversen Grußworten darf die UN-Sonderbotschafterin sprechen. Murad plädiert fast leidenschaftlich dafür, endlich die juristischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die IS-Verbrechen juristisch verfolgt werden können, und zwar vor dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Es gebe viele Beweise und Menschen, die zur Aussage bereit seien.
Für Jesiden und Christen müsse eine Sicherheitszone in den Kurdengebieten im Nordirak geschaffen werden. Ausdrücklich lobt sie den Umstand, dass Deutschland sein Herz für Flüchtlinge geöffnet habe. Laut Schätzungen leben in Deutschland bis zu 80.000 Jesiden. Nadia Murad mahnt die deutsche Politik, die Entscheidung zu überdenken, die Familienzusammenführung subsidiär geschützter, syrischer Flüchtlinge auszusetzen. "Frauen leiden am meisten", sagt sie, die Gewalt gegen Frauen und Kinder sei allgegenwärtig.
Hilflosigkeit dominiert
Eine folgende Expertengesprächsrunde, zu der auch der Bundestagsabgeordnete Johann Wadephul (CDU), Pastorin Cornelia Coenen-Marx und die Leiterin des Menschenrechtszentrums in Cottbus, Silvia Wähling gehören, macht klar, dass sich die Situation mit dem IS keinesfalls schnell klären wird.
Über 3.000 Frauen seien nach wie vor gefangen, rund 1.000 Kinder gezwungenermaßen zu Soldaten gemacht worden. Knapp zwei Millionen Menschen seien zwangsweise konvertiert, 1,2 Millionen ermordet worden. "Hilflos sehen wir zu, wie die Vielfalt des Nahen Ostens zerstört wird", so Coenen-Marx.
Der CDU-Politiker Wadephul steht an diesem Abend mit seiner Mahnung, dass militärisches Engagement gegenüber dem IS weiter nötig sei, eher allein. Mehr Einigkeit herrscht auf dem Podium darüber, dass viele niederschwellige Kontakte von Deutschland aus wichtig und hilfreich seien. Entscheidend sei, wieder Vertrauen zu geben, heißt es.
Dafür organisiert etwa das Cottbuser Menschenrechtszentrum vom 9. bis 16. April einen Friedens- und Versöhnungsmarsch durch die Kurdengebiete im Nordirak. Die frühere Oberkirchenrätin Coenen-Marx erinnert daran, dass es nie vergebens sei, "öffentlich den Mund aufzutun". Laut Silvia Wähling vom Menschenrechtszentrum Cottbus hat der brandenburgische Landtag eine Bundesratsinitiative für ein zweites Sonderkontingent jesidischer Flüchtlinge beschlossen. Nadia Murad war mit Hilfe eines solchen Kontingents nach Baden-Württemberg gekommen.