DOMRADIO.DE: Sie haben ein Buch geschrieben, "Ungleichheit in der Klassengesellschaft", das jetzt erschienen ist. Darin schreiben Sie unter anderem, dass die Pandemie die sozialen Unterschiede nicht nur verdeutlicht, wie man häufig hört, sondern sogar verschärft.
Prof. Christoph Butterwegge (Armutsforscher): Das zeigt sich in vielerlei Hinsicht. Nach dem Beginn der Pandemie sind die Aktienmärkte eingebrochen und dieser Börsencrash hat vor allen Dingen Kleinanleger getroffen, weil die in panikartiger Weise ihre Aktien abgestoßen haben. Die Großanleger haben auf sinkende Kurse gewettet mit Leerverkäufen und haben in dieser Krise auch noch preiswert Aktien nachgekauft. Am Ende sind sie reicher daraus hervorgegangen.
Wenn man die Folgen der Rezession sieht, dann haben mehr Menschen und Familien bei Lebensmitteldiscountern eingekauft, weil sie sparen mussten. Damit sind diejenigen noch reicher geworden, denen Ketten wie Aldi Nord und Süd gehören. Der reichste Mann der Bundesrepublik, Dieter Schwarz, besitzt mit Lidl und Kaufland zwei solcher Ketten und hatte schon vor der Pandemie ein Privatvermögen von 41,5 Milliarden Euro.
Wenn Existenzen bedroht waren und wenn Menschen in der Kurzarbeit ein noch niedrigeres Einkommen hatten als vor der Pandemie, dann haben solche Menschen häufiger ihr Girokonto überzogen und hohe Dispo- oder Überziehungszinsen zahlen müssen. Das hat wiederum diejenigen, denen die Banken oder Anteile daran gehören, reicher gemacht. All diese Effekte führen zur Polarisierung. Deswegen denke ich, dass die Ungleichheit in Deutschland wie in anderen Ländern zugenommen hat.
DOMRADIO.DE: Klassische sozioökonomische Ungleichheiten kennen wir natürlich aus den USA oder auch Südafrika. Sind wir schon nah dran an solchen Zuständen?
Butterwegge: Wenn man das Vermögen betrachtet, dann ist das so. Und für mich ist das Vermögen eigentlich entscheidend. Auch das hat man in der Pandemie gesehen: Einkommensquellen können praktisch über Nacht versiegen. Aber ein ausreichend großes Vermögen fällt natürlich nicht plötzlich weg.
Wenn man sich die Vermögensungleichheit in Deutschland anguckt, dann zeigt sich, dass die zehn Prozent der Reichsten über 67 Prozent des Netto-Gesamtvermögens verfügen, das reichste Prozent immer noch über 35 Prozent. Und das reichste Promille hat immer noch 20 Prozent des Netto-Gesamtvermögens.
Das Ausmaß der Ungleichheit lässt sich mit dem Gini-Koeffizienten darstellen. Wenn alle gleich viel oder gleich wenig besitzen in einer Gesellschaft ist der Gini-Koeffizient 0. Wenn einem alles gehört, ist der Gini-Koeffizient 1. In der Bundesrepublik beträgt er beim Vermögen 0,83, in den USA sind es 0,85 bis 0,87. Und da zeigt sich, dass wir eigentlich eine US-Amerikanisierung der Vermögensstruktur in Deutschland haben. Beim Einkommen ist diese Polarisierung weniger ausgeprägt. Aber unsere Gesellschaft fällt mehr und mehr auseinander.
DOMRADIO.DE: Es gibt ja unterschiedliche Maßnahmen, den Schaden durch Covid-19 abzufedern. Die Lufthansa wurde mit staatlichen Finanzierungen gerettet. Auch andere Unternehmen können sich mit Kurzarbeitergeld über Wasser halten. Corona-Kindergeld ist vor ein paar Tagen auf dem Konto angekommen. Wie ist Ihr Ansatz? Unternehmen auch mal gegen die Wand fahren lassen und stattdessen den Fokus auf die Ärmsten richten?
Butterwegge: Man darf nicht sozialdarwinistisch denken, nach dem Motto "Der Markt wird's schon regeln": Diejenigen, die sich auf dem Markt nicht behaupten, können ruhig ins Elend stürzen. Das hielte ich für völlig verkehrt. In einem Sozialstaat wie der Bundesrepublik Deutschland ist ja der Anspruch, allen Menschen in einer solchen Ausnahmesituation den sozialen Abstieg möglichst zu ersparen.
Aber man kann feststellen, dass es bei den staatlichen Hilfsmaßnahmen eine verteilungspolitische Schieflage gegeben hat. Man hat deutlich mehr die Firmen und die Wirtschaft mit Finanzhilfen unterstützt. Wohingegen die Armen, die Wohnungs- und Obdachlosen, aber auch die Hartz-IV-Bezieher oder diejenigen, die von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und Asylbewerberleistungen leben, eigentlich von den Rettungspaketen kaum etwas abbekommen haben.
Der Corona-Kinderbonus ist auch nur, wenn man so will, eine Ablasszahlung, also eine einmalige Zahlung. Die Bundesregierung hat sich stark darauf konzentriert, Pleiten von Unternehmen zu verhindern. Aber sie hat zu wenig getan, die Existenznöte von Menschen zu lindern, die schon vor der Pandemie im Grunde auf der Schattenseite des Lebens existierten.
DOMRADIO.DE: Die Pandemie begleitet uns jetzt ein halbes Jahr und es kommt bestimmt noch ein halbes dazu. Was haben wir denn bislang daraus gelernt?
Butterwegge: Gelernt haben wir eigentlich, dass ein funktionierender Sozialstaat und ein funktionierendes Gesundheitswesen systemrelevant sind. Dass man, wenn man dem Markt vertraut, wenn man glaubt, jeder ist sich selbst der Nächste, in einer solchen Ausnahmesituation eine Verelendung und starke soziale Verunsicherung in Teilen der Gesellschaft erlebt. In einer solchen Situation ist man auf einen Sozialstaat angewiesen, der Ungleichheit bekämpft, der versucht, Risiken zu mindern, und der Menschen nicht ins Nichts fallen lässt. Das, finde ich, soll aus dieser Krise mitgenommen werden und kann dann zu Maßnahmen führen, die diese Ungleichheit mindern.
Das Interview führte Tobias Fricke.