"Jetzt müssen wir alles dafür tun, dass gerade die engagierten Menschen in Afghanistan nicht das Gefühl haben, dass sie nun endgültig verlassen sind. Das wäre doppelter Verrat", sagte Lilie der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" an diesem Samstag.
Nachbarländer Afghanistans unterstützen
Die Nachbarländer Afghanistans wie etwa Pakistan müssten unterstützt werden, so der evangelische Theologe. "Aber diese Länder sind für Flüchtlinge nun auch nicht gerade Hollywood." Europa und Deutschland müssten "im Rahmen einer nachhaltigen Migrationspolitik bereit sein, diese Menschen in abgestimmten Kontingenten aufzunehmen. Da sollten wir auch mit unseren Nachbarstaaten und Verbündeten über vernünftige Verteilmechanismen sprechen", verlangte Lilie.
Er mahnte: "Da darf man nicht als Erstes sagen, 2015 dürfe sich nicht wiederholen." Diese Debatte sei absurd. "Wir sollten uns nun unserer humanitären Aufgabe stellen und nicht diese unsägliche Debatte weiter führen. Es ist schon beeindruckend, wie ausgerechnet bei solch sensiblen Fragen in diesen Wahlkampfzeiten wieder einmal die populistische Nase die Richtung weist."
Neues Narrativ als Einwanderungsland finden
Die Politiker, die den Einsatz in Afghanistan "mit großem Pathos" als Staatenbildung unterstützt hätten und die "Demokratie am Hindukusch" hätten verteidigen wollen, müssten nun zu den Werten einer demokratischen Gesellschaft stehen, betonte Lilie. "Das braucht politisches Rückgrat und Führung." Insgesamt falle es noch immer politisch schwer, "ein neues positives Narrativ dafür zu finden, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist." Notwendig sei "eine positive neue Erzählung".
Hilfreich wäre zusagen: "All diejenigen, die unser Land aktiv und demokratisch mitgestalten wollen, sind hier herzlich willkommen. Und das gilt auch für diejenigen, die aus verschiedenen Gründen auf Asyl angewiesen sind", erklärte Lilie.
Evangelischer Bischof Kramer fordert Konsequenzen
Der Bischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), Friedrich Kramer, innenpolitische Konsequenzen gefordert. Auslandseinsätze der Bundeswehr dürften nur noch eine absolute Ausnahme sein, sagte Kramer dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Erfurt: "Übernahme von Verantwortung besteht nicht darin, dass man versucht, Demokratien in anderen Ländern zu installieren."
Es sei deutlich geworden, dass eine starke Militärmacht wie die USA vieles unter der Decke halten könne. Aber das bilde nicht die realen und auch mentalen Wirklichkeiten ab. "Afghanistan zeigt, dass ein sogenanntes Nation-Building mit militärischen Mitteln nicht funktioniert", sagte Kramer. Die Aussage, die Sicherheit Deutschlands werde am Hindukusch verteidigt, bezeichnete er als "schlicht falsch". Die damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, habe mit ihren Worten "nichts ist gut in Afghanistan" 2010 in der Dresdener Frauenkirche das Grundthema richtig benannt. Sie sei «auf erschütternde Weise» bestätigt worden.
Der Bischof räumte ein, dass auch bei den evangelischen Christen die Themen Frieden und Konfliktbewältigung ohne Waffen zuletzt in den Hintergrund traten - auch, weil «in unserer Erregungsgesellschaft» anderes nach vorn drängte. Für Christen hieße es jetzt, ihre Friedengebete zu verstärken. Das Thema dürfe nicht nur ein paar Friedensbewegte umtreiben. "Frieden ist unsere grundkirchliche Aufgabe und damit auch jeden Sonntag Thema im Gottesdienst", erklärte Kramer.
Kramer rechnet mit keiner größeren Flüchtlingswelle. Es werde auch eine Aufgabe der Kirche sein, "deutlich zu machen, dass wir unsere afghanischen Helfer jetzt unterstützen müssen". Es stehe wohl außer Frage, dass vielen Gebildeten und Liberalen am Ende nur die Flucht bleibe. "Denen können wir die Tür nicht zuschlagen. Das ist gar nicht diskutierbar für mich", unterstrich der Theologe.
Bischof Stäblein: Margot Käßmann hatte Recht
Der Berliner evangelische Bischof Christian Stäblein hat zur Hilfe für die Menschen in Afghanistan aufgerufen. "In Afghanistan spielt sich eine Tragödie ab. Mit Schrecken und mehr und mehr sichtbarem Verbrechen", erklärte der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin Brandenburg-schlesische Oberlausitz am Samstag im Hörfunk des RBB.
Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln müsse nach der Machtübernahmen der Taliban als erstes jenen Menschen geholfen werden, «die sich auf uns verlassen haben, die Ortskräfte, die mit uns zusammen gearbeitet haben und die jetzt um ihr Leben fürchten». Darüber hinaus gebe es viele Fragen, sagte Stäblein mit Blick etwa auf "Fehleinschätzungen der Lage", überhörte Warnungen oder Mängel beim Abzug der ausländischen Truppen. "Hinter und über dem allem schwebt dazu die ständige Frage: Welchen Sinn hatte das Engagement in Afghanistan überhaupt."
Im Rückblick müsse der ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, Recht gegeben werden. Käßmann hatte in ihrer Neujahrspredigt 2010 in der Dresdener Frauenkirche mit Blick auf den Nato-Einsatz gesagt: "Nichts ist gut in Afghanistan." Für diese Aussage musste sie viel Kritik einstecken. Damit habe Käßmann gemeint, dass dieser Einsatz offenkundig nicht den gewünschten Frieden schaffe, sagte Stäblein.
Weiter sagte er: "Wir Kirchen wissen gerade aus der eigenen Missions- und Kolonialgeschichte, wie problematisch das Aufzwingen von Werten und Überzeugungen sein kann, wenn sie doch fremd sind, fremd bleiben." Erzwingen gehe eben nicht, nur überzeugen ohne jede Form von Gewalt.