Weil er Kinder missbrauchte, ist Pfarrer A. zweimal von Gerichten verurteilt worden. 1972 erhielt er eine Haft- und 1988 eine Bewährungsstrafe. Trotzdem konnte A. weiter seinem Beruf als Seelsorger nachgehen - erst im Erzbistum Köln, dann in den Bistümern Münster und Essen. Es dauerte beinahe 50 Jahre, bis A. nicht mehr Gottesdienste feiern, Kinder taufen und Eheleute trauen durfte: Im Jahr 2019 verbot ihm der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki die priesterlichen Dienste. Mittlerweile ist A. ganz aus dem Klerikerstand entlassen.
Der Fall A. ist ein besonders krasses Beispiel für ein wiederkehrendes Muster: Geistliche unter Missbrauchsverdacht blieben lange Zeit von ihren Vorgesetzten mehr oder weniger unbehelligt. Der eine wurde in eine andere Gemeinde versetzt, der andere zu einer Therapie verdonnert. Sonst passierte oft: Gar nichts. Wie kann das sein? Warum schritten Personalchefs, Generalvikare und Bischöfe nicht konsequenter ein?
Regeln teilweise gänzlich unbekannt
"Wir sind auf ein System der Unzuständigkeit, der fehlenden Rechtsklarheit, der fehlenden Kontrollmöglichkeiten und der Intransparenz gestoßen", lautet die Erklärung des Kölner Strafrechtlers Björn Gercke. Vergangenen Donnerstag stellte er ein Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen vor, das er im Auftrag des Erzbistums Köln erstellt hat. 236 Aktenvorgänge aus den Jahren 1975 bis 2018 werteten Gercke und sein Team aus. In 24 davon stießen sie auf 75 Pflichtverletzungen durch acht hohe Amtsträger. Die Juristen führten zudem Interviews mit den Beschuldigten aus der heutigen und früheren Bistumsleitung.
Neben unprofessioneller Aktenführung stellten die Gutachter fest, dass sich einige Regeln widersprachen und andere gänzlich unbekannt waren. Zudem ist in der rund 900 Seiten starken Ausarbeitung immer wieder die Rede von fehlendem Bewusstsein. Die Amtsträger hätten schlicht nicht gewusst, dass sie Regeln auch wirklich einhalten und durchsetzen müssen. Sie hätten vor allem versucht, "Reputationsschäden von der Kirche abzuwenden".
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der Hamburger Historiker Thomas Großbölting. Für das Bistum Münster erstellt er gerade eine Missbrauchsstudie, die ebenfalls die Rolle von Leitungspersonen beleuchtet. Mehrere hundert Akten haben die Forscher bereits ausgewertet. Streckenweise läsen sich die Dokumente, als würde "ein Familienangehöriger an das Oberhaupt der Familie schreiben", so Großbölting. "Da finden Sie neben der Versetzungsurkunde eben auch eine Urlaubspostkarte an den Bischof von Mitbruder XY."
Diese Verquickung von Rollen hält der Wissenschaftler für problematisch. So seien die Bischöfe für die Priester zugleich Personalverantwortliche, Richter, geistliche Begleiter und manchmal auch alte Studienkollegen. "Lange ist diese Nicht-Differenziertheit von Rollen nicht infrage gestellt worden, weil sich damit auch eine unglaubliche Machtkonzentration verbindet", vermutet Großbölting.
Will heißen: Sind Kompetenzen und Zuständigkeiten unklar, muss Macht nicht unbedingt geteilt werden.
Opferperspektive lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle
Auch die Gercke-Gutachter blicken kritisch auf die Machtfülle der Erzbischöfe in Köln. Zudem spielte ihrer Ansicht nach die Opferperspektive lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. So sei Kindesmissbrauch in erster Linie als Verstoß gegen das sechste Gebot begriffen worden, was die Juristen an einem Beispiel deutlich machen:
Demnach gab es früher im Generalvikariat eine Liste mit Priestern, die "sexuelle Verstöße" begangen haben. Neben den Namen machten Buchstaben die Art des Verstoßes kenntlich - "Z" für Zölibatsverstoß, "H" für Homosexualität und "P" für Pädophilie. Die Amtsträger warfen also alle Vergehen in einen Topf. Ihnen sei nicht bewusst gewesen, dass einvernehmlicher Sex zwischen einem Priester und einer erwachsenen Frau anders zu bewerten ist als der Missbrauch eines Kindes, erklären die Gutachter.
In seiner Untersuchung rät das Gercke-Team zu Verbesserungen. Das Erzbistum solle unter anderem die Aktenführung professionalisieren, Führungskräfte weiterbilden und eine Stelle zur Überwachung von Täterauflagen schaffen. Ob sich Woelki an diese Vorschläge hält, zeigt sich an diesem Dienstag. Dann stellt er weitere Konsequenzen aus dem Gutachten vor.