Beziehungskrisen, Sorge um explodierende Kosten, Einsamkeit: Die Themen, die Menschen belasten, sind vielfältig - und das sind häufig genau die Themen, mit denen die Ehrenamtler und Ehrenamtlerinnen bei der Telefonseelsorge konfrontiert sind. Man wisse vorher nie, "wer da jetzt anruft", schreibt Bernhard Pfeifer in einem Leserbrief an die "Zeit"-Beilage "Christ & Welt". Daher gelte es, bei jedem Telefonklingeln "absolut hellwach und konzentriert zu sein".
Pfeifer ist Vorsitzender des Förderkreises der ökumenischen Telefonseelsorge Main-Kinzig/Hanau. Eine von 104 Telefonseelsorge-Stellen in Deutschland - die längst nicht mehr allein auf diesem klassischen Weg erreichbar ist. Im vergangenen Jahr wurden 1,01 Millionen Seelsorge- und Beratungsgespräche geführt, es gab aber auch 41.556 Mailwechsel und 31.997 Chats. Zusätzlich ist an 25 Standorten eine Beratung vor Ort möglich; dort konnten nach Angaben der Deutschen Bischofskonferenz im vergangenen Jahr über 42.000 Menschen unterstützt werden.
Idee der Telefonseelsorge entstand durch Suizid
Insbesondere die Zahl der Ratsuchenden, die sich online melden, steigt seit Beginn der Corona-Pandemie. Seitdem ist auch die Einsamkeit das Thema, das am häufigsten angesprochen wird. Suizidalität spielt in acht Prozent der Telefonate eine Rolle, in fast 40 Prozent der Mailwechsel und über 27 Prozent der Chats.
Ein Suizid war es auch, der die ursprüngliche Idee für eine telefonische Erreichbarkeit für Menschen in Seelennot weckte. Bereits um die Jahrhundertwende waren Pfarrer auf steigende Suizidzahlen aufmerksam geworden, sowohl in New York als auch in London.
Anfang der 1950er Jahre dann nahm sich eine 13 Jahre alte Engländerin das Leben: Beim Einsetzen ihrer ersten Periode fürchtete sie, unheilbar krank zu sein. Dieses Schicksal bewegte den anglikanischen Geistlichen Chad Varah so sehr, dass er Suizidgefährdete via Zeitungsanzeige aufrief, sich telefonisch bei ihm zu melden.
Erste deutsche Telefonseelsorge in Berlin
Am 2. November 1953, vor 70 Jahren, stand die entsprechende Leitung - und binnen kurzer Zeit konnte Varah die vielen Anrufe nicht mehr allein bewältigen. Anonym zuhören, die anrufende Person unabhängig von Religion in den Mittelpunkt stellen, Schweigepflicht über Besprochenes: Nach diesen Leitlinien wuchs die Hilfsorganisation der "Samatarians", die nach zehn Jahren bereits 40 Filialen in ganz Großbritannien unterhielt.
Die Telefonseelsorge in Berlin, 1956 gegründet, gilt als erste deutsche Einrichtung dieser Art. Getragen wird die Telefonseelsorge finanziell größtenteils von den beiden großen Kirchen und deren Wohlfahrtsverbänden.
Angebote sind heute breiter
Die Angebote haben sich derweil weiter spezialisiert. So gibt es Suchtnotrufe, für Kinder und Jugendliche die "Nummer gegen Kummer" oder Hotlines für Betroffene von häuslicher Gewalt.
Gesprächskompetenz sei darüber hinaus von entscheidender Bedeutung für das gesellschaftliche Miteinander, sagt die Leiterin des Nationalen Suizidpräventionsprogramms, Barbara Schneider: So könnten Apotheker, Frisörinnen oder Wirte - Berufsgruppen, die viel mit Menschen in Kontakt seien - mit entsprechenden Fähigkeiten zur Vorbeugung suizidaler Krisen beitragen.
Mindestens ein Jahr dauert die Ausbildung für Ehrenamtliche bei der Telefonseelsorge. Ziel sei, so zu sprechen und zuzuhören, dass das Gegenüber Vertrauen fasse: "Es soll sich ernst genommen und verstanden fühlen. Die dadurch erreichte Atempause von der Krise hilft schon, um Abstand zu gewinnen und Auswege zu erkennen," erklärt Geschäftsführerin Lydia Seifert.
Mehr Anrufe durch viele Krisen
Ein lückenloses Angebot - 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr - ist weiterhin der Anspruch. Allerdings werde die Nummer der Telefonseelsorge immer häufiger gewählt, sagte Seifert im Sommer. Zu bestimmten Zeiten müssten Ratsuchende mehrere Versuche unternehmen, bis sie jemanden erreichten.
Auch angesichts zahlreicher Krisen in Politik und Gesellschaft wird daher immer wieder der Ruf nach einem Ausbau des Angebots laut. Varah, der oft als "Vater der Telefonseelsorge" gewürdigt wird, starb im November 2007 mit 95 Jahren. Die Idee, die er entscheidend vorangebracht hat, lebt weiter.