Wachsende Intoleranz bei religiöser Vielfalt in Brasilien

Wie lange will Gott noch Brasilianer sein?

Lange war die katholische Kirche in Brasilien unangefochten. Afrobrasilianische und indigene Religionen gediehen daneben friedlich. Bedrohen die Evangelikalen im Bunde mit Präsident Bolsonaro jetzt den Pluralismus?

Autor/in:
Natalie Fritz
Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa (dpa)
Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa ( dpa )

Noch ist Brasilien das Land mit den meisten Katholikinnen und Katholiken weltweit. "Gott ist ein Brasilianer", sagt man dort. Doch Wissenschaftler prophezeien einen rasanten Rückgang. Seit 1985 ist der katholische Anteil von 83 Prozent auf 50 Prozent zusammengeschrumpft. Aber warum bröckelt die Macht der katholischen Kirche 200 Jahre nach der gerade eben begangenen Unabhängigkeit von Portugal so massiv?

Religiöse Vielfalt

Die Kolonialherren förderten ungewollt die religiöse Vielfalt durch die Einfuhr von Sklaven. Afrikanische und indigene Arbeitskräfte wurden in Brasilien zwar (zwangs-)getauft, lebten ihre ursprünglichen religiösen Traditionen jedoch heimlich weiter. Neue religiöse Bewegungen verbanden sie mit katholischen Riten. Candomble und Umbanda sind heute die wichtigsten Formen dieser afrobrasilianischen Religionen. Sie orientieren sich an der westafrikanischen Yoruba-Kultur, kennen aber auch indigene Riten.

Im Candomble werden Orixas, vergöttlichte Naturkräfte, durch Opfer verehrt. Orixas können Besitz von einer Person in Trance ergreifen und sich so offenbaren. Jeder Mensch hat demnach mindestens zwei Orixas, die ihn begleiten und schützen - ähnlich einem Schutzengel.

Gruppe von jungen Indigenen in Brasilien / © Marcelo Camargo (dpa)
Gruppe von jungen Indigenen in Brasilien / © Marcelo Camargo ( dpa )

Die Verbindung zwischen christlichen und afrikanisch-animistischen Elementen trägt dazu bei, dass viele Candomble-Angehörige sich zumindest nominell als katholisch bezeichnen. Man kann am Sonntag in die Kirche gehen und in der gleichen Woche an einem Ritus im Tempel teilnehmen.

Die Umbanda ist erst Anfang des 20. Jahrhunderts in Rio de Janeiro entstanden. Sie verbindet ebenfalls Elemente aus der Yoruba-Kultur wie die Orixas mit katholischer Heiligenverehrung, der jüdischen Kabbala und esoterischen sowie indigenen Vorstellungen. Die Umbanda propagiert eine neue Menschlichkeit jenseits von Rasse und Klasse sowie Nächstenliebe über den Tod hinaus. Mitglieder gibt es auch in Uruguay und Argentinien.

Den jahrhundertelangen Missionsbemühungen der katholischen Kirche zum Trotz existieren in Brasilien also verschiedenste "Mischreligionen" nebeneinander. Die Kirche hat sich damit arrangiert, offensive Mission gibt es kaum noch. Zugleich hat die Kirche ihre bisweilen oppositionelle Haltung aus der Militärdiktatur bis 1985 heute weitgehend aufgegeben. Dadurch hat sie in der Gesellschaft an Rückhalt und in der Politik an Einfluss verloren. Seit den 1970ern bieten sich zudem immer häufiger evangelikale Kirchen als Helfer in der Not an - vor allem für die Perspektivlosen in den Favelas oder in entlegenen Gebieten, wo der Staat kaum existiert.

Evangelikale werden mehr

Die Evangelikalen bringen ihre Vision von einem besseren Leben mit Erlösungseifer und materieller Schlagseite an die unterprivilegierte Bevölkerung. Insbesondere die Pfingstkirchen. Wer genug spendet erhält demnach nicht nur mehr Seelenheil, sondern Gott wird ihm angeblich auch finanzielle Sicherheit zurückgeben. Dabei sind evangelikale Kirchen über eigene Radio- und TV-Stationen, übers Internet und die sozialen Medien inzwischen allgegenwärtig.

Gottesdienst in einer evangelikalen Kirche / ©  Annette Zoepf (epd)
Gottesdienst in einer evangelikalen Kirche / © Annette Zoepf ( epd )

Mittlerweile zählen 31 Prozent der Bevölkerung zu einer evangelikalen oder pfingstkirchlichen Gemeinschaft. Darunter sind viele Katholikinnen und Katholiken, die in evangelikalen Kirchen ihr Bedürfnis nach einer persönlichen Gottesbeziehung ausleben. Für eine solche Gottesbeziehung ist ein aktiv gelebter Glaube essenziell, ein nomineller reicht nicht. Viele evangelikale Gläubige engagieren sich freiwillig. Die drei großen evangelikalen Kirchen "Universalkirche des Königreichs Gottes", die "Versammlung Gottes" und die "Kirche des Vierfältigen Evangeliums" sind so inzwischen Wirtschaftsunternehmen geworden und beeinflussen zunehmend die Politik.

Ihnen kommt entgegen, dass der amtierende Präsident Jair Messias Bolsonaro nicht nur ultrakonservative Ansichten vertritt, sondern sich 2016 medienwirksam von einem Pastor der "Versammlung Gottes" im Jordan taufen ließ. Ein geschicktes Manöver des ursprünglich katholisch getauften Bolsonaro, um sich Stimmen zu sichern, und zugleich eine Basis für die Evangelikalen, ihre Position im Staat auszubauen.

Unterstützung für Bolsonaro

2018 unterstützten alle großen evangelikalen Kirchen Bolsonaros Präsidentschaftswahlkampf unter dem Motto "Brasilien über alles - Gott über allen". Heute gestalten Evangelikale in Ämtern die Politik mit. Das Bündnis zwischen Bolsonaro und den Evangelikalen hat sich für beide Seiten rentiert. Die evangelikalen fast 30 Prozent der Wahlberechtigten richten sich oft nach den Vorgaben ihrer Geistlichen.

Umgekehrt stützt Bolsonaros Politik deren moralisch-rigide Weltanschauung. Alles, was nicht wörtlich in der Bibel steht, wird von den evangelikalen Kirchen abgelehnt. Geschlechtergleichheit, Klima- und LGBTQ-Politik gelten als Bedrohung für Familie, Glaube und Land - von afrobrasilianischen oder indigenen Religionsgemeinschaften ganz zu schweigen.

Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien / © Marcos Correa/Palacio Planalto (dpa)
Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien / © Marcos Correa/Palacio Planalto ( dpa )

Seit den 2010er Jahren gibt es immer mehr Berichte über Tempelschändungen und Übergriffe auf Priesterinnen und Gläubige. In afrobrasilianischen Ritualen werde der Teufel angebetet, man müsse diesem unchristlichen Treiben ein Ende setzen, giften evangelikale Führer. Und militante Gläubige, darunter auch Gangmitglieder, handeln. Die Zahl religiös motivierter Attentate und Übergriffe hat allein im Bundesstaat Sao Paulo seit 2019 um 547 Prozent zugenommen.

Die größte Zahl der Übergriffe betraf afrobrasilianische Religionsangehörige.

Die religiöse Intoleranz in Brasilien hat zugenommen; besonders in den Favelas, wo bislang viele afrobrasilianische Kulte ihre Heimstätte hatten. Was passiert nach dem 2. Oktober, falls die Wählerinnen und Wähler Bolsonaro eine weitere Amtszeit ermöglichen?

Will Gott dann noch Brasilianer sein?

Kirche in Brasilien

Mit geschätzt rund 125 Millionen Katholiken (nach offiziellen Taufzahlen des Vatikan 171 Millionen) ist Brasilien das größte katholisch geprägte Land der Welt. Angesichts enormer sozialer Gegensätze ist das Engagement der Kirche für Arme und Entrechtete weithin anerkannt; Brasilien ist einer der Ausgangspunkte der sogenannten Theologie der Befreiung. Zugleich macht der katholischen Kirche eine wachsende Zahl protestantischer und evangelikaler Kirchen und Sekten ihre Rolle streitig.

Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa (dpa)
Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa ( dpa )
Quelle:
KNA