DOMRADIO.DE: Seit Montag heißt es für Grundschüler und Grundschülerinnen in Nordrhein-Westfalen: Auf in die Schule. Abstandsregeln gelten nicht mehr so. Mundschutz muss nicht getragen werden. Es werden keine Klassen mehr getrennt. Elternverbände laufen Sturm und behaupten, der NRW-Wahlkampf werde auf dem Rücken der Kinder ausgetragen. Ist das wirklich so?
Erik Flügge (Politikberater und Autor): Auf dem Rücken der Kinder wird er nicht ausgetragen, weil die Kinder ja eine besonders geringe Wahrscheinlichkeit haben, dass sie tatsächlich negative Folgen von Corona haben könnten. Sie sind besonders geschützt. Das heißt, das Risiko besteht eher für die Großeltern dieser Kinder, die dann von diesen Kindern getroffen werden. Oder für ihre Eltern, wenn die Vorerkrankungen haben. Aber der Vorwurf, dass diese Kinder gefährdet werden, ist tatsächlich nicht korrekt.
DOMRADIO.DE: Stellen wir uns aber mal vor: Dutzende Schulen müssen wegen Corona wieder schließen. Eltern und Kinder kommen in den Sommerferien dann in Quarantäne. Das kann doch ganz schnell dann für die Politik auch nach hinten losgehen, oder?
Flügge: Ja, das kann es absolut. Es war immer klar in der ganzen Corona-Krise, dass das Schließen leichter wird als das Öffnen. Also, dass da ein Problem bestehen wird, weil man natürlich immer die Herausforderung hat, dass Corona nicht weg ist und wir weder ein Heilmittel noch einen Impfstoff haben und deswegen jede Lockerung auch immer das Risiko eines neuen Ausbruchs hat. An der Stelle muss man sehr, sehr viel abwägen.
Es gibt übrigens auch Dinge, die man tatsächlich kritisieren kann im Verfahren, das hier in NRW gewählt wird. Die Städte und Gemeinden, die dann die Schulen auf Anweisung des Landesministeriums und der Landesregierung öffnen müssen, beklagen seit Wochen und Monaten, dass das zu häufig und zu "hopplahopp" kommt und dass zu wenig planvoll geschieht. Man könne zuweilen gar nicht die Vorbereitungen treffen, weil dann bestimmtes Material nicht zu beschaffen ist, das dafür gebraucht wird.
DOMRADIO.DE: Die Verantwortung darf nicht einfach abgeschoben werden. Aber schauen wir nochmal auf die Lockerungen: Viele sind doch überrascht, dass sie immer wieder so plötzlich kommen.
Flügge: Ich glaube definitiv, dass sich die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen auf die Fahnen geschrieben, früh lockern zu wollen, früh soziales Leben wieder zu ermöglichen und viele Rahmenbedingungen zu erleichtern. Das sehen andere Bundesländer anders oder sind da langsamer unterwegs. Das heißt: Definitiv gibt es mindestens zwei unterschiedliche Interpretationen des jetzigen Geschehens. Und die NRW-Landesregierung hat die, die eben früher vorangehen.
Das ist nicht völlig verantwortungslos. Aber es ist eben auch riskanter als andere Strategien. Und ich glaube, dass es absolut notwendig war und ist, auch wirtschaftlich darüber nachzudenken. Denn man kann auch sehr, sehr schwere wirtschaftliche Krisen erzeugen, die dann auch gefährdend werden für eine große Anzahl von Menschen, die ihre wirtschaftliche Grundlage verlieren, die dann kein Gehalt oder keinen Job mehr haben. Man darf halt nicht überziehen.
Aber dass jetzt eine geöffnete Sauna in Nordrhein-Westfalen entscheidend für die Volkswirtschaft wäre, mag ich bezweifeln.
DOMRADIO.DE: Schauen wir aber mal auf die Populisten hier bei uns im Land: Können die diese Krise nutzen? Müssen wir da aufpassen?
Flügge Aktuell sieht es so aus, dass es einzelne Personen gibt, die verschwörungstheoretisch unterwegs sind und massive Reichweite aufbauen. Die schaffen es, viele Leute gerade als Anhängerinnen und Leserinnen zu gewinnen.
Wer es nicht schafft, Kapital aus dieser Krise zu schlagen, sind politische Populisten, also die Parteien, die ganz massiv gegen die Corona-Politik opponieren. Die Alternative für Deutschland, die das am stärksten macht, verliert gerade rapide an Zustimmung. Und das passiert ja auch in Nordrhein-Westfalen. Politisch scheint sich das nicht durchzusetzen.
DOMRADIO.DE: Verschwörungstheoretiker sprechen ja auch immer wieder die Einschränkung von Grundrechten und ihrer Freiheit an. Sie haben sich auch mit dem Thema ausgibig beschäftigt. An welche Freiheiten müssen wir und denn erinnern, wenn die Pandemie vorbei ist?
Flügge: Ich mache es mal an einem einfachen Beispiel deutlich: Der Händedruck. Ich glaube, allen geht es gerade so, dass, wenn ihnen jemand die Hand hinstreckt, sie kurz zögern und dann überlegen: Was mache ich denn jetzt? Nehme ich die Hand? Oder mache ich das nicht?
Eine klassische Geste, die wir kannten und die immer da war, hat sich plötzlich in ein Fragezeichen aufgelöst. Wenn man das vier Wochen macht, wenn man das acht Wochen oder zwölf Wochen so macht, dann ändert sich nichts. Danach wird man sich wieder die Hand geben. Aber wir reden ja gerade über Szenarien von einem Jahr, anderthalb Jahren oder zwei Jahren, bis vielleicht hoffentlich eine Lösung und ein Impfstoff gefunden wird.
Das heißt, Kultur beständigt sich durch Wiederholung. Und es wird ganz spannend, wie wir danach wieder unsere Beziehungsnormalität herstellen wollen. Auch hier ein Beispiel: Ein Kind, das gerade zwei Jahre alt ist, das hat ein Viertel seines Lebens unter Corona-Bedingungen verbracht. Das hat also in den letzten Monaten immer nur erlebt, dass Menschen distanziert miteinander umgehen, dass man die Oma nicht so treffen darf und so weiter.
Das brennt sich tatsächlich mental ein, und deswegen ist es auch so wichtig, Kitas irgendwann aufzumachen und deswegen ist es auch nicht gänzlich falsch, Grundschulen zu öffnen.