Warum Astrologie in unsicheren Zeiten einen Boom erlebt

Uralter Glaube trifft auf wachsenden Markt

Fast die Hälfte der Bevölkerung glaubt laut Umfragen an eine überirdische Macht. Das ist ein seit Jahrzehnten stabiler Wert. In der Corona-Zeit ist indes ein vergessen geglaubter Trend zurückgekehrt, die Astrologie.

Autor/in:
Paula Konersmann
Frau liest Tarot-Karten auf dem Tisch / © Natalie magic (shutterstock)
Frau liest Tarot-Karten auf dem Tisch / © Natalie magic ( shutterstock )

Das lilafarbene Glaskugel-Emoji glitzert neben einer Mondsichel und goldenen Sternen. Profile für Horoskope, Tarot-Karten-"Orakel" oder sogenannte Psychic Readings finden sich zuhauf in den Sozialen Medien – als alltägliche Ratgeber oder gleich für eine "spirituelle Lebensreise". Seit der Corona-Zeit scheinen solche Inhalte verstärkt aufzutauchen, sagt Uta Bange, Psychologin und Beraterin bei der Sekteninfo Nordrhein-Westfalen.

Astro-Influencer

Jüngere Menschen hätten gewissermaßen eine Marktlücke erkannt: "Es gibt Influencerinnen für Mode, Kosmetik, Sport oder Yoga – also ist es naheliegend, dass es auch Astro-Influencer gibt." Während der Pandemie hätten die Menschen ohnehin viel vor dem Computer oder am Smartphone gesessen – und manche hätten womöglich gehofft, über entsprechende Accounts wieder Zuversicht und das Gefühl von Kontrolle über eine schwierige Lebenssituation zu bekommen.

Vollmond am Petersdom / © Daniele COSSU (shutterstock)

Problematisch sei diese Entwicklung insofern nicht, als keine gehäufte Zahl von Beratungsanfragen eintreffe. "Früher gab es Astro-Hotlines, wo Leute angerufen und sich verschuldet haben", erklärt Bange. "Das beobachten wir in letzter Zeit nicht mehr." Mehr Anfragen gebe es indes zu bestimmten Coachings, zu esoterischen Angeboten oder sogenanntem Channeling, also dem Versuch, über einen menschlichen Körper mit übernatürlichen Wesen in Kontakt zu treten, seien es Engel, Geister oder Verstorbene.

Empfänglichkeit für Esoterik 

Die Übergänge sind fließend, sagt der Präsident des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM), Stephan Herpertz. Er betrachtet Astrologie als einen Teilbereich der Esoterik – eines wachsenden Marktes. "Um dafür empfänglich zu sein, bedarf es einer Grundhaltung, die ich als eher der Wissenschaft abgeneigt bezeichnen würde."

Derzeit stießen die "individuelle Einzigartigkeit und der Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit" an Grenzen. Esoterik biete "einen Ausweg in eine sehr vereinfachte Welt". Dabei stelle sich der moderne Individualismus "seine eigene Spiritualität zusammen. Nicht die Beziehung zu einem Gott, sondern die eigene innere Dimension ist von Bedeutung."

Mehr Anfragen bei Sekteninfo 

Im Zusammenhang mit Esoterik verzeichnet die Sekteninfo steigende Anfragen. Einerseits melden sich laut Bange diejenigen, die sich geschädigt fühlen – andererseits auch besorgte Angehörige. Ein Alarmzeichen ist es aus ihrer Sicht, wenn man das Gefühl hat, jemanden nicht mehr erreichen zu können, weil die Person etwa sage: "Ihr könnt mich nicht verstehen, ich bin spirituell höher entwickelt." Auch, wenn jemand keinerlei Kritik an neuen Ritualen oder einer Gruppe dulde, könne dies auf eine ungute Entwicklung hindeuten.

In solchen Fällen raten die Beraterinnen und Berater, eher zuzuhören und sich vorschnelle Ratschläge oder abwertende Kommentare zu verkneifen. "So kann man am ehesten herausfinden, was dahintersteckt und wo man vielleicht ansetzen könnte, um jemanden zu unterstützen", erklärt die Expertin.

Leere Kirchenbänke / © Maleo (shutterstock)

Sinnfragen landen seltener bei Pfarrern 

Der Esoterikmarkt stößt nach Einschätzung von Herpertz auch in eine Lücke, die durch den sinkenden Zuspruch zu den großen Religionen entsteht. Psychotherapeutinnen und -therapeuten seien heute mitunter "mit Problemlagen beschäftigt, die andere übernehmen könnten, und schwer erkrankte Patienten finden keinen Therapieplatz, weil normale psychische Reaktionen gesellschaftlich nicht aufgefangen werden" – so sagte es die Psychiaterin Paraskevi Mavrogiorgou vor einer Weile dem "Spiegel". Eine Ursache dafür ist laut Georg Juckel, ebenfalls Psychiater: "Die klassischen seelsorgerischen Aufgaben und Sinnfragen des Lebens landen immer seltener bei Pfarrern und immer häufiger bei uns in der Notaufnahme."

Orientierungslosigkeit 

Die christlichen Kirchen versprächen "genau das, was viele derzeit vermissen", fügte Juckel im "Spiegel" hinzu. Dazu gehöre die zentrale Botschaft, "dass sich jeder Mensch so angenommen fühlen kann, wie er ist". Allerdings füllten die Kirchen diese Leitbilder nicht aus "oder verkehren sie schlimmstenfalls wie bei den Missbrauchsfällen ins Gegenteil", so der Mediziner. "Es fehlen Institutionen, die Menschen dabei helfen, Halt, Orientierung und Perspektiven zu finden. Oder sie werden als solche nicht anerkannt."

Keine tiefe Verwurzelung

Eine verbreitete Sehnsucht nach Sinn sieht auch Beraterin Bange – allerdings gehe es oftmals weniger darum, sich auch selbst einzubringen und sozial zu engagieren: "Beim Esoterikmarkt probiert man eher aus und zieht weiter, will sich gar nicht mehr so tief verwurzeln." Dabei sei ein stabiles soziales Netz wertvoll, um Krisen zu bewältigen – und ebenso die Möglichkeit, selbst etwas zu bewirken: "Das kann durchaus dabei helfen, mit Ängsten und Unsicherheiten umzugehen."

Quelle:
KNA