Warum das Thema Altenpflege dringend eine Lobby braucht

"Die Bezahlung ist nicht der große Knackpunkt"

Die Gesellschaft wird immer älter. Schon heute fehlt Personal in der Altenpflege. Welche Konsequenzen das hat und wie wichtig Lobbyismus in dieser Sache ist, weiß Stephan Reitz vom Diözesancaritasverband Aachen.

Pflegerin in einem Altenheim / © Marijan Murat (dpa)
Pflegerin in einem Altenheim / © Marijan Murat ( dpa )

DOMRADIO.DE: Haben Sie sich schon Gedanken gemacht welches Konzept für Sie in Frage käme, sollten Sie selbst mal Hilfe im Alter benötigen?

Stephan Reitz (Fachreferent für den Bereich Facharbeit und Sozialpolitik beim Diözesancaritasverband Aachen und Mitglied der NRW-Themenkonferenz Alter und Pflege): Ja, zwangsläufig. Wenn ich mir vorstellen möchte, was andere gerne hätten, muss ich mich natürlich auch damit befassen.

Für mich wäre einfach wichtig, dass ich die Hilfeleistungen erhalte, die ich dann brauche, um möglichst selbstständig alt zu werden und dabei nicht sozial isoliert leben zu müssen. Also die passende Hilfe erhalten und das möglichst in Gemeinschaft und so, dass ich auch noch etwas mitgestalten kann.

DOMRADIO.DE: Das Interessante ist ja, es gibt viele verschiedene Möglichkeiten und Wege, wie man seinen letzten Lebensabschnitt in Gemeinschaft und gut aufgehoben verbringen kann.

Reitz: Genau. Es gibt ein großes Angebot, das zum Teil sehr niederschwellig ist, mit kleinen Unterstützungen zum geselligen Miteinander in älteren Jahren bis hin zu schwerstpflegebedürftigen Menschen, die rund um Hilfestellung brauchen, um überhaupt ihre physikalischen Grundbedürfnisse gestillt zu bekommen. Also da gibt es ein breites Spektrum.

Stephan Reitz

"Es wird zwangsläufig viel mehr pflegebedürftige Menschen geben die Hilfe benötigen. Darin sehe ich die größte Herausforderung, der wir uns stellen"

DOMRADIO.DE: Ein wichtiger Faktor ist natürlich auch, wie ich finanziell aufgestellt bin. Denn diese vielen Optionen stehen dann auch nicht allen offen. Wo sehen Sie denn ganz aktuell gerade die größten Herausforderungen in der Altenpflege?

Reitz: Ich denke, der demografische Wandel ist uns wohl allen bewusst, ähnlich wie mit dem Klimawandel hat das ja eine Zeit gedauert. Aber ich glaube, jetzt ist es schon fast langweilig, darüber zu sprechen und zu sagen, dass es nun mal so kommen wird, dass wir eben eine alternde Gesellschaft sind.

Und trotz allem medizinischen Fortschritt, den es gibt, denke ich, dass dies zur Folge haben wird, dass es zwangsläufig auch viel mehr pflegebedürftige Menschen geben wird, die Hilfe benötigen. Darin sehe ich die größte Herausforderung, der wir uns stellen.

Hinweisschild im Seniorenheim / © Harald Oppitz (KNA)
Hinweisschild im Seniorenheim / © Harald Oppitz ( KNA )

Auf der anderen Seite sind auf der professionellen Helferseite heute schon zu wenig Menschen da, die professionelle Hilfe erbringen können.

DOMRADIO.DE: Einige versprechen sich von technischen Neuerungen sehr viel. Diese Woche beginnt in Essen die internationale Messe Altenpflege, bei der es um Therapien, Betreuungsansätze, aber auch technischen Dinge geht, die gerade neu auf den Markt gekommen sind – Apps, künstliche Intelligenz und andere Gadgets.

Gibt es da etwas, dass Ihnen Hoffnung macht, oder sagen Sie, da wird noch viel passieren und das könnte uns deutliche Entlastung bringen?

Reitz: Da wird mit Sicherheit noch viel passieren. Derzeit würde ich sagen, bringt es gar nicht so sehr viel an Entlastung. Bislang sind all diese Dinge in Richtung Digitalisierung eher zur Erleichterung der Organisation, was ja auch wichtig ist.

Aber in der konkreten Hilfeleistung gibt es noch recht wenig, was auf digitaler Seite bislang entwickelt wurde und was wirklich hilfreich ist. Da wird was kommen. Ich wage aber nicht zu hoffen, dass das jetzt wirklich auch so weit gedeiht, dass es uns dann auch aus der eben geschilderten Problemlage herausbringt. Da, glaube ich, braucht es weiterhin Menschen, die mit Herz und Verstand die Hilfeleistungen erbringen, die in dem Bereich gebraucht werden.

DOMRADIO.DE: Sie koordinieren diese Arbeit im Diözesancaritasverband Aachen und sind Fachmann auf dem Gebiet. Wie sieht derzeit ihr Arbeitsalltag und welches Thema, welche Baustelle beschäftigt Sie jeden Tag?

Caritas Deutschland

Der Deutsche Caritasverband (DCV) ist der größte Wohlfahrtsverband Europas. Die Dachorganisation katholischer Sozialeinrichtungen setzt sich für Menschen in Not ein. Mit rund 690.000 hauptamtlichen Mitarbeitern - 80 Prozent sind Frauen - ist die Caritas zudem der größte private Arbeitgeber in Deutschland. Der Begriff "caritas" stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Nächstenliebe. Sitz des 1897 gegründeten Verbands ist Freiburg. Wichtige Bedeutung haben die Büros in Berlin und Brüssel.

Hinweisschild der Caritas / © Michael Althaus (KNA)
Hinweisschild der Caritas / © Michael Althaus ( KNA )

Reitz: Ich glaube, da bin ich nicht allein mit dieser Baustelle. Seit zwei Jahren hat sich meine Arbeit aufgrund der Pandemie und all der Dinge, die wir da vermitteln mussten, komplett verändert. Also zum Beispiel welche Regelungen es derzeit gibt. Die haben sich auch sehr häufig geändert und das Management in dieser Pandemie und der Reduzierung von Infektionen ist gerade bei den sogenannten vulnerablen Personengruppen, die pflegebedürftige alte Menschen sind, die große Herausforderung.

Aber auch neben meinem praktischen Alltag, wo ich ansonsten sehr viel mit der sozialpolitischen Vertretung in Gremien unterwegs bin, bin ich jetzt nicht mehr physisch unterwegs, sondern über eine Videokonferenz zugeschaltet.

Und das hat natürlich das Arbeitsleben komplett verändert. Mir fehlen persönlich einfach die Kontakte zu den Kolleginnen und Kollegen oder auch zu den politischen Verantwortlichen, da in einen direkten Kontakt zu kommen.

DOMRADIO.DE: In Nordrhein-Westfalen stehen bald die Landtagswahlen an. In gewisser Weise machen Sie Lobbyismus für diese sozialen Themen, für Altenpflege. Wo sehen Sie mit Blick auf politische Entscheidungen die größten Baustellen? Was muss da angegangen werden?

Reitz: Die größte Baustelle bleibt, dass wir mehr Menschen brauchen, die sich dort mehr für die Pflege einsetzen, die sich berufen fühlen, dort tätig zu werden und die eben auch entsprechende Fähigkeiten mitbringen, um das dann individuell bedarfsgerecht tun zu können.

Da geht es einerseits sicherlich im Wesentlichen auf politischer Basis darum, dass die Ausbildung noch mehr gefördert werden muss, wie es in den letzten Jahren schon versucht wurde. Da muss sich viel ändern.

Aber auch die Arbeitsbedingungen in den Pflegeeinrichtungen und in den mobilen ambulanten Pflegediensten muss dringend verbessert werden. Da geht es sekundär um dieses Thema, das uns die letzten Jahre sehr begleitet hat: die Bezahlung. Natürlich sagen die Kolleginnen und Kollegen da, dass es zwar ganz schön ist, wenn sie mehr Geld bekommen.

Aber das ist nicht der große Knackpunkt. Der große Knackpunkt ist, dass sie jetzt schon zu wenige sind und einfach zu wenig Zeit haben, um wirklich den Bedürfnissen der Menschen, die sie da begleiten, auch entsprechen zu können.

DOMRADIO.DE: Dann sollten wir für uns alle eigentlich die Daumen drücken, dass sich da jetzt endlich mal was ändert.

Reitz: Ja, in jedem Fall. Da tut sich jetzt was, auch auf bundesgesetzlicher Ebene. Ab Mitte 2023 soll ein Personalbemessungsinstrument eingeführt werden für den stationären Bereich der Pflege, also für die Pflegeeinrichtungen. Da haben wir die Hoffnung, dass das tatsächlich auch einen Fortschritt bringt.

Aber auf Landesebene müssen noch ganz viele Dinge behandelt bzw. geregelt werden, die mit der reinen Bundesvorgabe da nicht sind. Und da denke ich, ist die große Herausforderung, mit der zukünftigen Landesregierung das gut an den Start zu bringen. Dass es nicht am Ende doch dabeibleibt, wie es jetzt ist, und all diese Stellenanteile, die letztlich landesrechtlich festgelegt werden, doch nicht kommen.

Das Interview führte Jann-Jakob Loos.

Quelle:
DR