DOMRADIO.DE: Sind die Werte der NATO eigentlich christlich?
Jochen Reidegeld (Pfarrer und wissenschaftlicher Projektleiter am Institut für Theologie und Frieden): Ich würde die Werte der NATO weniger als christlich, sondern eher als abendländisch bezeichnen. Und das Abendländische wiederum ist vom Christentum geprägt, zum Beispiel von der biblischen Tradition in der Frage von Frieden und Gerechtigkeit - aber auch von Philosophen wie Immanuel Kant. Die Werte, die die NATO aus eigener Sicht vertritt, nämlich Frieden, Demokratie, Freiheit und Herrschaft des Rechts, haben dadurch auch christliche Wurzeln, aber da hat das Christentum keinen Alleinvertretungsanspruch.
DOMRADIO.DE: Wie ist die NATO aus christlicher Sicht zu beurteilen?
Reidegeld: Wenn wir auf die christliche Tradition schauen, gibt es eine große Bandbreite von Sichtweisen, nicht nur auf die NATO speziell, sondern insgesamt auf Militärbündnisse und das Militär an sich. Da gibt es die Tradition, eines entschlossenen Pazifismus der sich auf das Neue Testament beruft, auf die Bergpredigt, auf den Aufruf Jesu zur Gewaltlosigkeit. Aus dieser Tradition und Botschaft heraus kann es keine Befürwortung von Gewalt geben.
Dann gibt es aber eine andere Tradition, die sich nicht nur aus dem Neuen Testament ableitet, sondern auch aus friedensethischen Traditionen. Sie sagt, dass es darauf ankommt eine Abwägung vorzunehmen, im Sinne der Verhältnismäßigkeit und im Sinne der Ziele. Aus dieser Tradition heraus hat die NATO eine christliche Berechtigung, wenn sie sich als Verteidigungsgemeinschaft definiert. Angriffskriege sind aus christlicher Sicht nicht zu rechtfertigen.
DOMRADIO.DE: In NATO-Fragen war die Kirche häufig gespalten. Ein Beispiel: 1999 hat die Deutsche Bischofskonferenz die NATO-Angriffe in Jugoslawien unterstützte, während der Weltkirchenrat und der Vatikan das stets abgelehnt haben.
Reidegeld: Und daran sieht man, dass es keine einfachen Antworten gibt, kein Ja und Nein, sondern dass es immer ein Abwägungsprozess bleibt. Darum können Christinnen und Christen mit Blick auf die NATO oder militärische Maßnahmen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. In der Bibel steht eben nicht: Die NATO ist erlaubt oder nicht. Es ist der Kern der christlichen Verantwortung sich in der Abwägung von bestimmten Werten ein Urteil zu bilden. Wenn sich die NATO als Wertegemeinschaft definiert, muss sie sich also auch an ihren Werten messen lassen.
DOMRADIO.DE: Der Papst hat der NATO eine Mitschuld am Krieg in der Ukraine attestiert. Wie bewerten Sie das?
Reidegeld: Ich weiß nicht, ob das eine friedensanalytische, eine geschichtliche oder sogar eine psychologische Frage ist. Der Papst kommt aus Argentinien. Ich glaube, wir müssen uns daran gewöhnen, dass die Menschen von dort auf dieses Bündnis und die westliche Gesellschaft anders schauen, als wir das aus unserer westlichen Sicht tun.
Wir betrachten uns als Gralshüter der Menschenrechte und des Völkerrechts - und das ist in Teilen berechtigt, in anderen Teilen aber auch nicht. Deswegen ist auch aber die Frage berechtigt, ob wir unseren eigenen Ansprüchen immer gerecht werden. Diese Frage muss man auch unabhängig von der Ukraine stellen.
Ich weiß aus meinen Auslandserfahrungen, dass wir von Menschen im sogenannten globalen Süden ganz anders betrachtet und sehr kritisch gesehen werden. Schon allein wegen der Kolonialgeschichte. Und auch wegen der Realpolitik Henry Kissingers in der Zeit des Kalten Krieges. Da sind auch schon mal Demokratien gestürzt worden, um befürchtete kommunistische oder sozialistische Tendenzen abzuwehren - diese Kritikpunkte reichen auch in neuere militärische Maßnahmen hinein.
Wenn die NATO ein demokratisches Wertebündnis ist, muss sie sich diese Kritik des Papstes auch anhören und abwägen, ob da was dran sein könnte. Sie muss sich immer wieder kritisch hinterfragen und ihre Maßnahmen immer wieder auf’s Neue prüfen. Genau das macht sie ja zu einem demokratischen Bündnis, das sich von Diktaturen unterscheidet.
DOMRADIO.DE: Weil Sie gerade Kissinger angesprochen haben: Er hat die Theorie zum Gleichgewicht der Mächte aufgestellt und für ein Gleichgewicht der Mächte braucht es ein Gleichgewicht der Waffen. Was sagt der Vatikan dazu?
Reidegeld: Was der Vatikan dazu sagt weiß ich nicht, aber die Friedensethik sagt, dass wir uns von der Wirklichkeit nicht abwenden können. Wir können nicht einfach alle Waffen abschaffen, in der Hoffnung, dass dadurch Frieden hergestellt wird. Wir müssen uns doch nur die Geschichte angucken und den Expansionswillen Adolf Hitlers. Es muss die Fähigkeit geben, sich zu wehren. Es darf aber kein unhinterfragtes Aufrüsten geben. Es muss immer das Bemühen da sein internationale Vereinbarungen und Regulierungen zu finden - was die UNO die Herrschaft des Rechts nennt. Diese Bemühungen hat es ja auch nach dem Ende des kalten Krieges gegeben.
DOMRADIO.DE: Internationale Vereinbarungen werden vor allem im UN-Sicherheitsrat entschieden, der spiegelt aber gar nicht mehr die tatsächlichen Machtverhältnisse wieder. Ein Staat wie England beispielsweise, der weltweit nicht mehr viel Macht hat, ist ständiger Vertreter im Sicherheitsrat; Brasilien oder Indien dagegen aber nicht, obwohl sie viel mächtiger sind.
Reidegeld: Und genau diese mangelnde Bereitschaft der Mitglieder des Sicherheitsrates, die UNO umzubauen, ist eine der Ursachen dafür, dass sie an Autorität und Handlungsfähigkeit verliert. Die Mitglieder des Sicherheitsrates verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn sie nicht für die eigenen Werte einstehen, sondern zugunsten eigener Interessen und des Machterhalts agieren. Deshalb dürfen wir jetzt aber nicht aufhören auf diese internationale Ordnung zu setzen.
DOMRADIO.DE: Wo sehen Sie da die Rolle der christlichen Kirchen?
Reidegeld: Wir leben in einer Zeit, in der die Logik der Konfrontation wieder stärker wird. Da ist es, glaube ich, wichtig, dass wir als christliche Kirche das Selbstverteidigungsrecht, die Souveränität der Völker und die Herrschaft des Rechts unterstützen, auf der anderen Seite aber immer eine mahnende Stimme sind, die immer wieder Alternativen ins Spiel bringt, die nichts mit Militarisierung zu tun haben.
DOMRADIO.DE: Die deutschen Bischöfe haben in ihrem neuen Friedenswort das Selbstverteidigungsrecht nochmal bestärkt. Wie bewerten Sie das mit Blick auf die NATO?
Reidegeld: Ich sehe darin eine indirekte Befürwortung der NATO, wenn es um das Verständnis als Verteidigungsbündnis geht – insofern wird es als christlich verantwortlich betrachtet. Aber die Bischöfe stellen keinen Persilschein aus. Die Aufgabe der Kirchen und der Religionsgemeinschaft bleibt das kritische Hinterfragen: Werden die einzelnen Mitglieder der NATO den eigenen Werten gerecht? Gehen wir als Mitglieder verantwortlich mit diesem Militärbündnis um?
DOMRADIO.DE: Ist der Besitz von Atomwaffen ethisch inakzeptabel, so wie Papst Franziskus das mal gesagt hat?
Reidegeld: Das ist eine sehr, sehr schwierige Frage. Ich glaube, der Besitz von Atomwaffen ist niemals zu befürworten und immer auch ein Stück weit unverantwortlich - trotzdem ist er hinnehmbar, weil der einseitige Abbau von Atomwaffen nicht zur Stabilisierung führen würde, sondern eine Destabilisierung zur Folge hätte.
DOMRADIO.DE: Ist militärische Gewalt manchmal das letzte Mittel für Frieden?
Reidegeld: Es ist nie ein gutes, aber manchmal ein verantwortbares Mittel. Und das nur dann, wenn das Ziel die Widerherstellung von Frieden und der Schutz von Schwächeren ist. Als jemand, der selber Zeuge der Folgen des Völkermords an den Jesiden geworden ist, weiß ich, dass man einzelne Menschen nicht schutzlos massiver Gewalt ausgesetzt lassen kann. Da gibt es eine Verantwortung einzugreifen. Und letztendlich muss die möglicherweise auch militärischer Natur sein.
Das ist das Verbrecherische an der Eröffnung jeden Krieges. Er zwingt Menschen in Situationen hinein, in der sie nur noch die Wahl zwischen einer schlechten und einer sehr schlechten Möglichkeit haben. Durch ihr Handeln werden sie auf jeden Fall Schuld auf sich laden.
Das Interview führte Clemens Sarholz.