Der russische Überfall auf die Ukraine hat alles verändert, auch die zuletzt eher beiläufigen Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika. Brüssel und Berlin haben nach jahrelangem Desinteresse Lateinamerika wieder im Fokus, weil die Region bei der Absicherung von Lieferketten und mit ihrem Rohstoffreichtum zu einem Schlüssel werden könnte. Die plötzlich neu entflammte Liebe stößt aber in Lateinamerika auch auf Misstrauen.
Am Montag und Dienstag wollen sich beide Seiten auf dem Gipfel der EU und der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) näherkommen. "Das letzte Gipfeltreffen ist viel zu lang her - ganze acht Jahre", sagt der Berichterstatter für Lateinamerika im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, Peter Beyer (CDU), der Katholischen Nachrichten-Agentur KNA. "Es ist höchste Zeit, sich um engere Beziehungen zu den lateinamerikanischen Ländern zu bemühen. Die EU hat das inzwischen verstanden. Der Gipfel eröffnet nun die Chance für eine transatlantische Partnerschaft 2.0., die ihren Fokus sowohl thematisch als auch geografisch erweitert", zeigt sich Beyer überzeugt.
Diktaturen außen vor
Beim Gipfel dabei sind auch die linksgerichteten Diktaturen aus Kuba, Venezuela und Nicaragua, sonst bei den Gesprächen weitgehend ausgeschlossen. Im Vorfeld des Treffens hat das EU-Parlament Position bezogen und die jüngsten Kandidaturverbote für venezolanische Oppositionspolitiker bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen klar verurteilt.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch forderte die Regierungen Amerikas und Europas auf, der Situation in Nicaragua beim Gipfeltreffen Priorität einzuräumen. Die Regierungen sollten eine Gruppe von Freunden des nicaraguanischen Volkes gründen, um überregionale, hochrangige Bemühungen zur Wiederherstellung der Demokratie in dem Land zu gewährleisten. Auch an Kuba gibt es aus Europa klare Forderungen, die politischen Gefangenen freizulassen und der Opposition endlich demokratische Grundrechte einzuräumen.
"Kritische Zeit für Lateinamerika"
Doch auch Lateinamerika und die Karibik haben klare Forderungen an die EU. So berichteten lokale Medien, dass die CELAC-Regierungen Reparationszahlungen für die Sklaven- und Kolonialzeit sowie die Auswirkungen des Klimawandels einfordern. Zudem kritisieren einige lateinamerikanische Regierungen die europäische Haltung zu Kuba, Venezuela und Nicaragua als Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Vor allem das jahrzehntelange US-Handelsembargo gegen Kuba stößt in der Region auf Kritik.
Erika Guevara-Rosas, Direktorin für Nord- und Südamerika bei Amnesty International, appelliert im Vorfeld des Gipfels: "Dies ist eine kritische Zeit für Lateinamerika und die Karibik mit ihren vielfältigen und komplexen Menschenrechtsproblemen." Millionen von Menschen seien gezwungen gewesen, vor Menschenrechtskrisen und Umweltkatastrophen in ihren Heimatländern zu fliehen und internationalen Schutz zu suchen. Die Region sei der gefährlichste Ort der Welt für Menschenrechtsverteidiger.
Einige grundsätzliche Fragen
Doch anstatt zu versuchen, diese Probleme zu lösen, hätten sich viele Staaten dafür entschieden, Proteste zu unterdrücken und ihre Grenzen und Sicherheitspolitik zu militarisieren, so die Menschenrechtlerin. "Dieses Gipfeltreffen bietet eine Gelegenheit für einen bedeutenden Wandel. Die Staats- und Regierungschefs in der Region müssen mit ihren europäischen Kollegen zusammenarbeiten, um Lösungen zu finden und die Menschenrechte und die Gerechtigkeit für alle zu wahren."
Inmitten dieser komplexen Gemengelage gibt es nun einige grundsätzliche Fragen für die Europäer: Soll der Freihandel ausgeweitet werden, auch wenn sich beispielsweise die Regierungen in Brasilien oder Argentinien weigern bestimmte Umweltschutzrichtlinien zu akzeptieren? Umgekehrt könnte die Fragestellung aber auch lauten: Hat Europa überhaupt das Recht den Lateinamerikanern angesichts einer Historie von Kolonialzeit und Sklavenhandel Vorschriften zu machen? Beide Seiten wollen sich in Brüssel aufeinander zu bewegen. Vor allem die Europäer stehen unter Druck. Während ihrer jahrelangen Untätigkeit hat sie China längst als zweitwichtigster Handelspartner hinter den USA in Lateinamerika abgelöst.