Warum Martinsbräuche in Frankreich fast verschwunden sind

"Den heiligen Martin machen"

In vielen Regionen Deutschlands ist Martinsbrauchtum bis heute verbreitet: Martinszüge mit Laternen, um die Häuser ziehen, Gänsebraten. In Frankreich, seinem Wirkungsort, weiß man nur noch wenig vom Heiligen des Teilens

Martinsumzug in Bonn / © Harald Oppitz (KNA)
Martinsumzug in Bonn / © Harald Oppitz ( KNA )

Normalerweise wird der Todestag eines Heiligen zu dessen Verehrung ausgewählt. Beim heiligen Bischof Martin von Tours liegt die Sache anders: Er starb am 8. November 397 in Candes, außerhalb seiner Bischofsstadt, bei einem Pfarreibesuch. Die Bürger von Tours drängten vergeblich auf die Herausgabe ihres Bischofs. Auch die Bevölkerung von Candes wollte ihn behalten - denn Martin stand schon zu Lebzeiten im Ruf der Heiligkeit. Am Ende entführten ihn die Tourer bei Nacht und treidelten ihn vorsichtig den Fluss hinunter. Und überall am Ufer sprossen plötzlich weiße Blüten: ein "Sommer des heiligen Martin" mitten im November!

Drei Tage später fand in Tours die Beisetzung statt. Die Tatsache, dass der Begräbnistag des heiligen Martin und nicht der Todestag zu seinem offiziellen Namenstag wurde, erklären Volkskundler auch mit durchaus weltlichen Motiven: Der 11. November war traditionell der Pacht- und Zahltag, also der Tag, an dem viel in Naturalien gezahlt und auch geschlachtet wurde. Gänse und frische Wurst waren im Umlauf - ein Grund, warum Landarbeiter und Kinder am Ende des bäuerlichen Wirtschaftsjahres um die Häuser zogen, sangen und mit Naturalien belohnt wurden.

Genießen im Namen des heiligen Martins

Zudem wurde der 11.11. - heute Vorbote der nächsten Karnevalssession - in einigen Regionen auch zum Vorabend der vorweihnachtlichen Fasten- und Bußzeit ("Martinsquadragese"), an dem man noch mal ordentlich hinlangte wie an den Tagen vor Aschermittwoch. Gut zu essen und zu trinken bezeichnen die Franzosen bis heute landläufig als "martiner" oder als "faire la Saint-Martin" (den heiligen Martin machen) - und das, obwohl der frühere Mönch und Bischof von Tours als ausgemachter Asket bekannt war. Ja, es gibt sogar die Bezeichnung "Martinsschmerzen" ("mal de Saint-Martin") für den Kater und/oder das Bauchweh nach üppigem Gelage.

Martinsbrauchtum geriet in Vergessenheit

Über diese maximal verzerrte Wahrnehmung hinaus sind in Frankreich die Kenntnisse zum Wirken des heiligen Martin und das damit verbundene Brauchtum über die Jahrhunderte fast vollständig verdunstet. Kaum einer kennt mehr seine Legenden und Geschichten. Seit den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts war der Martinskult im Niedergang. Das Pilgerwesen lag darnieder.

Die riesige mittelalterliche Martinsbasilika von Tours - über Jahrhunderte eine zentrale Station auf dem Jakobsweg nach Spanien - verfiel und wurde nach der Französischen Revolution fast komplett abgerissen. In den zunehmend laizistischen 1880er Jahren gab es in Tours sogar handgreifliche Auseinandersetzungen darüber, ob man nach der Wiederauffindung der Reliquien überhaupt eine neue Martinsbasilika bauen sollte. Das einst reiche Martinsbrauchtum in Frankreich war gänzlich vergessen - von einigen Ausnahmen abgesehen, etwa in Toulouse, in Angers, im Elsass oder in Lothringen.

Martinstag als "Tag des Waffenstillstands"

Einen weiteren Grund für das Vergessen kann man in der Krypta der neuen Basilika von Tours entdecken, ganz nahe beim Grab des Heiligen. Dort ließ der Oberkommandierende der Westalliierten, Marschall Ferdinand Foch (1851-1929), eine Danktafel für Frankreichs Sieg im Ersten Weltkrieg anbringen. Sie trägt das Datum der Unterzeichnung des Waffenstillstands: den 11. November 1918 - Martinstag. Experten schließen nicht aus, dass der tief fromme Südfranzose Foch den Tag der deutschen Kapitulation ganz bewusst auf Martini legte - hatte er doch kurz zuvor noch in einer Martinskirche für den Sieg gebetet.

Für das Bewusstsein um den Martinstag war das ungewollt ein Bärendienst. Denn bis zum Tod der letzten Weltkriegsveteranen vor einigen Jahren war der 11. November in Frankreich fortan der "Tag des Waffenstillstands". Antoine Selosse, Initiator des "Europäischen Kulturzentrums Saint Martin de Tours" und der Europäischen Martinswege: "Es wäre schön, wenn eine Frucht der gewachsenen deutsch-französischen Freundschaft ein Rückimport des Martinsbrauchtums etwa aus dem Rheinland würde."

In Tours versucht seine Organisation, ihren Teil dazu beizutragen: mit geführten Radtouren am Martinstag, mit Fackelbasteln und Umzug, gemeinsamem Kochen - und gemeinschaftlich geteiltem Essen.

Alexander Brüggemann


Quelle:
KNA