Wenn die Berliner Pfarrerin Kathrin Oxen morgens bei hellem Sonnenschein zum Bäcker geht und dabei an den Krieg in der Ukraine oder in Gaza denkt, hält sie mitunter kritische Zwiesprache mit Gott. Hier friedvoller Alltag, dort Gewalt und Tod: "Vielleicht sind das genau die Dinge, die im Gebet gut aufgehoben sind: die man nicht zusammenbekommt", sagt die vierfache Mutter.
Oxen ist Pfarrerin der Berliner Gedächtniskirche und insofern für Friedensgebete prädestiniert. Das Berliner Gotteshaus, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde und auch heute noch mit zerbrochenem Turm in den blauen Maihimmel ragt, ist ein Mahnmal für den Frieden, eine «Zeitzeugin aus Stein», wie Oxen sagt. Gebete für den Frieden gehören hier zur alltäglichen Gebetsroutine, finden zweimal täglich statt.
Der Frieden ist zerbrechlich
"Die Kirche erzählt als Bau davon, dass der Frieden zerbrechlich ist", sagt Oxen. Gleichzeitig sollen mit ihr Menschen bestärkt werden, die Hoffnung nicht aufzugeben. Das ist für die evangelische Geistliche auch die stärkste Aufgabe, die ein Friedensgebet hat: Es soll zeigen, dass «wir wider den Augenschein daran festhalten, dass Frieden möglich ist».
Und wann hilft Gott? Wann greift er ein? "Ich will nicht sagen, dass Gott nicht dafür zuständig ist. Aber: Krieg ist ja keine Naturkatastrophe. Ich bete um Dinge, auf die ich keinen Einfluss habe. Das ist beim Frieden nicht so. Wir Menschen wissen es ja eigentlich besser."
Doch warum gibt es dann immer wieder Kriege? Warum gibt es - trotz Holocaust und Zweitem Weltkrieg - offenbar keine Einsicht bei den Menschen? Oxen sagt: "Darauf habe ich keine Antwort. Aber auch das Schweigen Gottes muss man aushalten. Da halte ich es mit Hiob: Er bekommt auch keine Erklärung, keinen Grund für sein Leiden. Aber das hält ihn nicht davon ab, mit Gott im Gespräch zu bleiben."
Ein Gotteshaus für Christen, Juden und Moslems
Ähnlich sieht es Rabbiner Andreas Nachama. Er ist Geistlicher am "House of One" in Berlin. Der geplante Drei-Religionen-Bau soll, wenn er fertig ist, Gotteshaus für Christentum, Judentum und Islam gleichermaßen sein. "Es gibt diese jüdische Vorstellung, dass uns eine starke Hand aus der Dunkelheit ins Licht führt. Aber wir müssen auch selbst was dafür tun." Grund zur Hoffnung gebe es immer. Denn "wundersame Wendungen", wie Nachama sagt, gebe es viele. Als Beispiel nennt er den Fall der Berliner Mauer und die friedlichen Proteste und Gebete im Vorfeld. Die Mauer sei - bildlich gesprochen - durch die "guten Gedanken der Menschen zerbröselt und zerfallen ist wie Zwieback."
Es gebe zwar seiner Ansicht nach eine Signalwirkung durch Friedensgebete nach außen, so Nachama - "in der Gesellschaft macht es schon einen Unterschied, ob einer betet oder zehn Menschen beten." In dem, was ein Gebet bewirken kann, mache die Masse aber keinen Unterschied. "Hier kommt es darauf an, dass es von Herzen kommt."
Das «House of One» organisiert immer wieder interreligiöse Friedensgebete, je nach Weltlage auch spontan. Beim Friedensgebet nach dem Überfall der islamistischen Hamas auf Israel etwa seien beim Gebet drei Tage später im Freien 100 bis 150 Menschen zusammengekommen - muslimische Geistliche, Mitglieder der jüdischen Gemeinde, syrische Jugendliche, Katholiken, Touristen, Berliner, auf dem Weg nach Hause.
Keine Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern
Der Konflikt im Nahen Osten spiele bei den Gebeten keine politische Rolle, sagt Nachama. Zwischen Tätern und Opfern werde hier nicht unterschieden. "Über keine der getöteten Gruppen gibt es Grund zur Freude", stellt er klar. "Alle Opfer sind Opfer." Das sieht auch sein muslimischer Kollege vom "House of One" so, Imam Kadir Sanci. "Wir stellen uns auf die Seite der Werte und beten für alle Opfer des Krieges, jeder in seiner Tradition", sagt er.
Für ihn hat das Gebet - auch das Friedensgebet - psychologischen Wert. "Es ist, als würde man mit einem Freund oder einer Freundin reden. Man kann sich aussprechen."
Der Mensch muss aktiv werden
Kann manchmal wirklich nur noch Gott helfen? Gebete seien grundsätzlich "tatenorientiert", sagt Sanci - das heißt, der Mensch müsse selbst aktiv werden, stelle sich aber im zweiten Schritt unter die Allmacht Gottes - er wisse, dass er fehlbar sei und Gottes Hilfe benötige.
Der vor anderthalb Jahren verstorbene Berliner Franziskanerpater Josef Schulte sagte einmal: "Ich glaube nicht an so ein direktes Eingreifen im Sinne einer Automatik: 'Jetzt bete ich drei Rosenkränze und dann funktioniert das'. Beim Beten verhalten wir uns manchmal infantil und sind geleitet vom magischen Denken, nicht weit weg vom Aberglauben." Grundsätzlich wolle er sich eine gewisse Offenheit bewahren. "Ich will mich nicht in falscher Sicherheit wiegen. Es gibt auch Situationen, wo Schweigen, Ratlosigkeit und Nichtweiterwissen der Weg sind."