Jeder Einzelne könne judenfeindlich denken, auch wenn viele glaubten, das Problem betreffe "nur Kleinbürger - und nicht sie selbst".
In den vergangenen Jahren sei über Antisemiten gesprochen worden, "als wäre es eine besondere Kategorie von Mensch", so Horvilleur. Tatsächlich sei Antisemitismus in den meisten Ländern nicht mehr gesellschaftsfähig. "Aber er ist subtiler geworden, nimmt andere Formen an. Man kann heute kein Antisemit sein und trotzdem die Sprache des Antisemitismus sprechen."
Die Zeit der "Opferkonkurrenz"
Ein Problem sei, dass die heutige Zeit von einer "Opferkonkurrenz" geprägt sei. "Viele Lebensentwürfe funktionieren nur noch als Opfergeschichten. Als ob die Tatsache, dass man etwas erlitten hat, einem besondere Rechte verleihen würde." In diesem psychologischen Zusammenhang verkörpere niemand "die Figur des Opfers" besser als die Juden seit der Schoah, erklärte die Rabbinerin. Die Folge: "Man wirft ihnen vor, dass sie einem den Platz in der Sonne, aber auch den Platz im Schatten der Geschichte weggenommen haben."
Viele Minderheiten kämpften unterdessen nicht mehr gemeinsam, "sondern jeder nur für seine Sache", beklagte die 45-Jährige. "Das führt zum Rückzug auf sich selbst, zu Parallelgesellschaften." - Horvilleurs neues Buch, "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus", erscheint am Montag auf Deutsch.