Über ein Jahr nach Vorstellung des Missbrauch-Gutachtens für das Erzbistum Berlin will eine mit der Auswertung beauftragte Kommission am 1. März ihre Ergebnisse vorlegen. Die Anwaltskanzlei Redeker Sellner Dahs hatte das Gutachten im Auftrag des Erzbistums erstellt und Ende Januar 2021 zunächst nur einen Teil veröffentlicht.
Ein weiterer Teil mit konkreten Angaben zu den einzelnen Fällen, wenn auch teilweise geschwärzt, wurde im Juni auf der Internetseite des Erzbistums veröffentlicht.
Die 442 Seiten enthalten auch Informationen über den Umgang der Berliner Erzbischöfe mit den 61 beschuldigten Diözesanpriestern und Ordensangehörigen sowie den mindestens 121 betroffenen Kindern und Jugendlichen, die von der Kanzlei aus kirchlichen Personalakten ermittelt wurden.
Vor Entscheidung mit Personalverantwortlichen gesprochen
So wird in 13 Fällen der seit 2015 amtierende Berliner Erzbischof Heiner Koch genannt. Demnach wurde in einem Fall mit Kochs Kenntnis ein Beschuldigter 2016 an einem seiner früheren Einsatzorte beerdigt. Allerdings lag ein Dekret von Kochs Amtsvorgänger, Kardinal Rainer Maria Woelki, von 2012 vor, das - auf Empfehlung der damaligen Missbrauchsbeauftragten - genau dies untersagte. Das kirchliche Verfahren war unter Woelki eingestellt worden, nachdem die Voruntersuchung "ohne greifbares Ergebnis" geblieben war.
In einem anderen Fall äußerten sich die Gutachter "verwundert", dass Koch trotz Bedenken des Personalchefs und mehrerer aktenkundiger Beschuldigungen einen Geistlichen "ohne Einschränkungen" für den Einsatz in der Auslandsseelsorge empfahl und ihm einen "einwandfreien Charakter und Ruf" bescheinigte. Zwei strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten wurden eingestellt, ein kirchliches Verfahren gab es nicht.
Koch erläuterte in einer Stellungnahme ausführlich, er habe vor seiner Entscheidung mit dem Personalverantwortlichen gesprochen und in der Personalkonferenz um ein Votum gebeten: "Weder im Gespräch noch in der Personalkonferenz wurden irgendwelche Hinweise für eine unmoralische Verhaltensauffälligkeit in der Vergangenheit gegeben.
Keiner hielt seinen Einsatz in der Seelsorge für nicht vertretbar, weshalb ich dann auch die vom Auslandssekretariat der Deutschen Bischofskonferenz vorbereitete Erklärung unterschrieben habe."
Letzte Entscheidung lag bei Glaubenskongregation in Rom
Woelki wird in zwölf Fällen in seiner Funktion als Berliner Erzbischof von 2011 bis 2014 erwähnt. In einem davon bekunden die Autoren ihre Verwunderung über die Einstellung des Voruntersuchungsverfahrens, was nach der Aktenlage nicht erklärlich sei.
In einer ausführlichen Stellungnahme hatte Woelki zuvor seine Entscheidung verteidigt: Ihm habe der bestellte Ermittlungsrichter damals einen umfassend ermittelten Sachverhalt unterbreitet, der eine Einstellung des Verfahrens gerechtfertigt habe.
In mehreren Fällen machten sich aber sowohl Koch wie Woelki für härtere Sanktionen gegen Beschuldigte stark, mussten sich dann jedoch den Entscheidungen der Glaubenskongregation in Rom beugen.
Diese plädierte für mildere Maßnahmen oder die Einstellung von Verfahren. Auch hält das Gutachten in einem Fall fest, dass die Einbindung der Glaubenskongregation "zu einer erheblichen Verzögerung der Vorgänge" führte, die "für alle Beteiligten eine erhebliche Belastung" darstellte.
Kritische Vermerke zu Sterzinsky und Verwunderung über Meisner
Woelkis Amtsvorgänger Georg Sterzinsky (1936-2011), seit 1989 an der Spitze des (Erz-)Bistums Berlin, wird in zwei von 20 Fällen, in denen er genannt ist, kritisch vermerkt.
Demnach leitete er 1997 Vorwürfe gegen einen Beschuldigten nicht an die Staatsanwaltschaft weiter, wozu er nach damaligem Kirchenrecht auch nicht verpflichtet war, und ließ auch keinen Eintrag in die Personalakte vornehmen. Überdies nahm er trotz gegenteiliger Ratschläge mehrerer Personalverantwortlicher Mitte der 1990-er Jahre einen Mann als Priesteramtskandidat auf, der nun unter den Beschuldigten aufgeführt wird.
Der Name von Kardinal Joachim Meisner (1933-2017), vor seiner Zeit als Kölner Erzbischof von 1980 bis 1988 Bischof von Berlin, kommt in vier Fällen zur Sprache. So ist er in den Umgang mit einem Beschuldigten, einem promovierten Kirchenrechtler und Ordinariatsrat, involviert.
Die Gutachter zeigten sich verwundert darüber, dass das kirchliche Strafverfahren gegen den Beschuldigten nicht den sexuellen Missbrauch an einem Minderjährigen zum Inhalt hatte, sondern sich nur auf einen Verstoß gegen Beichtvorschriften beschränkte. Dem Beschuldigten wurde vorgeworfen, er habe dem "Mittäter" eines Verstoßes gegen das sechste Gebot in der Beichte die Lossprechung erteilt.
Nach diesem kirchenrechtlichen Verstoß habe der Beschuldigte nur drei Jahre später wieder als Priester tätig werden können, so die Gutachter. Zudem sei das Bistum Münster, in das der Geistliche wechselte, nicht in vollem Umfang über die Vorgänge in Berlin informiert worden. Damit sei der Diözese die Möglichkeit genommen worden, mögliche weitere Missbrauchstaten zu verhindern.