Himmelklar: Du bist Leiterin des Kindergartens St. Antonius in der Dortmunder Nordstadt. Wie war für dich die Corona-Zeit, als der Lockdown kam?
Barbara Eiche (Kindergarten-Leiterin St. Antonius, Dortmund): Ab Mitte März stand die Kita-Schließung an und es war zu Anfang eine ganz schwierige Zeit. Es gab dafür keinen Handlungsleitfaden. Wir waren völlig auf uns gestellt, es gab täglich oder wöchentlich über unseren Träger Informationen vom Ministerium NRW für Kinder, Familien, Flüchtlinge und Integration. Das waren Fachempfehlungen und wie das Wort "Empfehlung" schon sagt, war es ein Handlungsleitfaden, aber eben kein Muss, kein Gesetz, sondern die Ausgestaltung des Ganzen vor Ort blieb eigentlich mir und meinem Team alleine überlassen. Das waren schon sehr schwierige Fragen wie: Wie setze ich Mitarbeiterinnen ein? Welche Mitarbeiter müssen besonders geschützt sein, bleiben zu Hause und sind freigestellt? Welche Eltern sind systemrelevant? Das bedeutete, dass diese Kinder in eine Notbetreuung durften.
Da habe ich aber auch ganz schnell große Ängste und Unsicherheiten bei den Eltern verspürt, die gesagt haben: "Ach, eigentlich trauen wir uns gar nicht, unser Kind zu bringen. Stecken sich Kinder gegenseitig an? Wie ist der Schutz hier in der Kita gewährleistet?" Also viele Unsicherheiten, vieles war sehr schwierig. Es gab auch viele Ängste unter den Mitarbeitern: Stecke ich mich bei den Kindern an? Wie kann ich mich schützen? Und das große Thema war: Zu Anfang gab es gar nichts – keine Schutzausrüstung! Der Mund-Nasen-Schutz kam ja erst viele, viele Wochen oder Monate später ... Und wie verhalte ich mich bei der Arbeit? Alles auch emotional sehr schwierig.
Himmelklar: Gab es denn dann Masken?
Eiche: Masken gab es erst deutlich später. Die kamen erst Mitte Mai, also gute zwei Monate später. Und die ersten Masken, die über das Ministerium geliefert worden sind, haben wir gar nicht erst angenommen. Das stand auch groß in der Zeitung. Das waren qualitativ so minderwertige Masken. Die Erzieher hätten eine Maske in 20 Minuten selber zusammenbasteln können – und man braucht täglich ein bis zwei Masken. Sollte man das in seiner Freizeit machen? Wir haben als Team beschlossen, dass wir das ablehnen, und haben dann selbst für Eigenschutz gesorgt. Aus der Sicht des Ministeriums fand ich das eine ganz katastrophale Regelung. Es gab jetzt im Juli eine Entschuldigung seitens des Ministeriums dafür, sodass wir nicht als "Basteltanten" dargestellt werden sollten. Da ist wohl irgendwie etwas richtig schief gelaufen.
Himmelklar: Gibt es bestimmte Zeiten, zu denen die Kinder in die Kita kommen durften? Wie lief diese Notbetreuung ab?
Eiche: Es war jetzt lange, bis zu den Ferien, in reduzierter Stundenzahl möglich und auch mit reduziertem Personal. Wir mussten also immer ein Zweier-Betreuungsteam, ein sogenanntes "Betreuungs-Setting" vorhalten. Ab Juni kamen dann täglich die Vorschulkinder bis in die Mittagszeit, damit die Kinder noch einen wie auch immer gearteten Abschied ihrer Kindergartenzeit hatten, der aber eigentlich auch nicht so schön war. Wir haben das Beste daraus gemacht, aber alles immer ohne Eltern. Das Dramatische an dieser ganzen Situation ist, wenn man die Presse verfolgt: In all den Monaten ist ganz viel über die Situation der Familien gesprochen worden, die in der Zeit sicherlich Stress hatten, zum Teil berufstätig sind: Wie gestalten sie ihre Kinderbetreuung?
Aber es ist unfassbar wenig über die Kinder gesprochen worden. Und das macht ganz, ganz viel mit den Kindern! Ein Kindergartenkind ist zum Beispiel mit Mundschutz zum Kindergarten gebracht und an der Tür auf dem Arm der Mama oder des Papas weinend der Erzieherin übergeben worden. Die Eltern haben nämlich ein Betretungsverbot, dürfen nicht in die Einrichtung herein. Die emotionalen Folgen dieses Lockdowns und dieser Zeit danach, die vermögen wir noch gar nicht wirklich abzusehen, und ich glaube, es macht ganz viel mit den Kindern.
Himmelklar: Wie kann man die Kinder denn dann auffangen? Es ist eine katholische Einrichtung, wie klappt die Wertevermittlung dann in einer solchen Krise trotzdem?
Eiche: Mit ganz viel positiver Ansprache. Ein ganz schönes Beispiel dafür ist das Hände Waschen. Wir müssen den Kindern ja auch ganz viele Hygieneregeln beibringen, beispielsweise dieses ständige Hände Waschen für eine halbe Minute, was für ein dreijähriges Kind schwierig ist. Dabei singen die Kinder aber und sie haben Spaß und Freude dabei.
Zum Morgenbeginn machen wir einen Kreis in der großen Runde, wo wir gemeinsam singen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, den Kindern so gut es geht, diese Hemmschwelle zu nehmen, die vielleicht auch mit Ängsten und Sorgen einhergeht.
Ein Kind guckt dich zum Beispiel an, es ist ein Flüchtlingskind, das gar nicht unsere Sprache konnte, das im vergangenen Jahr so allmählich und langsam angefangen hat, ganz leise einige Worte, einige Sätze auf Deutsch zu sprechen. Es hat das immer ins Ohr der Bezugserzieherin geflüstert. Und jetzt war es ganz fremd: Alle tragen Mund-Nasen-Schutz. Das Kind traut sich gar nicht mehr an die Erzieherinnen heran und beobachtet diese ganze Szenerie.
Da ist es so wichtig, das Kind morgens fröhlich zu begrüßen und zu sagen: „Schön, dass du da bist!“ Das können die Erzieher hier wirklich auf eine ganz besondere Art und Weise. Ihm immer wieder durch Ansprache ein ganz positives Gefühl zu geben. Das schaffen wir täglich durch ganz viel Freude miteinander. Zur Zeit gehen wir viel nach draußen, da haben die Kinder sowieso besonders viel Spaß, zum Beispiel im Sandkasten. Wir sind hier zwischen Kirche und Kita in einer kleinen grünen Oase, wo wir ein tolles Spielgelände und eine Wasserstelle haben. Dann wird geplanscht und gespielt. Ich glaube, dass es so wichtig für die Kinder ist, eine unbeschwerte Zeit zu erleben. Da versuchen alle Erzieher eigentlich, ihr Bestmögliches zu tun.
Himmelklar: Du hast davon gesprochen, dass der Wechsel über den Sommer stattfindet: Die Ältesten werden zur Schule gehen, wenn sie jetzt nach den Sommerferien – und den Schulschließungen vorher durch die Corona-Pandemie seit März – wieder beginnt. Das heißt auch, dass die Ältesten Erstklässler werden! Konnten sie überhaupt verabschiedet werden?
Eiche: Ja, sie konnten verabschiedet werden, allerdings alleine. Normalerweise feiern wir immer am Ende eines Kita-Jahres ein ganz großes interkulturelles Fest. Da laden wir alle Eltern ein, es können auch die Großeltern und die Geschwisterkinder kommen. Die Eltern sind sehr stolz darauf. Sie bringen Essen aus ihrem Land mit. Wir haben Familien aus 17 verschiedenen Nationen, beispielsweise aus Afrika, aus Asien, also auch von verschiedenen Kontinenten. Das ist ein so schönes Miteinander. Wir starten mit einem großen Gottesdienst. Leider ist das alles ausgefallen durch das Betretungsverbot.
Wir haben die elf Vorschulkinder auf Gruppenebene eingeladen. Über eine tolle Aktion „Wir starten gleich – Kein Kind ohne Schulranzen!“ durch den Tatort-Verein haben alle umsonst eine Schultasche erhalten. Das ist in diesem Sozialraum ein unsagbarer Segen! Denn ich habe es auch schon anders erlebt. Da fängt Diskriminierung eigentlich an, wenn es den Familien nicht möglich ist, für eine gute Ausstattung für die Schule zu sorgen, sodass ein Kind mit einer gammeligen Tasche zur Schule geht. Ich habe auch schon ein Kind mit einer Plastiktüte gesehen. Hier haben sie aber alle einen unfassbar schönen Tornister, der an dem Tag überreicht worden ist. Es wurde noch einmal ein bisschen gesungen und gespielt. Am Mittag gab es das Lieblingsessen: Pizza und Eis zum Nachtisch.
Die Kinder bekommen zum Abschied eine große Mappe mit den gesammelten Bildern und gebastelten Dingen und vielen, vielen Fotos aus den drei Kita-Jahren. Da haben dann auch die Eltern die Möglichkeit, mal zu gucken, wie die drei Jahre waren. Was ihr Kind alles gelernt und vor allen Dingen erlebt hat, wer die Freunde waren.
Dann haben wir die Familien draußen an der Tür verabschiedet, noch einmal ein paar nette Worte gesprochen und alles Gute gewünscht. Das ist alles sehr schwierig – natürlich gehören die Eltern eigentlich mit in diesen Rahmen, aber das war so leider nicht möglich.
Himmelklar: Das stand auch in einem tollen Brief an die Eltern, womit ihr den Familien das mit auf den Weg gegeben habt. Der Dortmunder Norden, wo der Kindergarten St. Antonius ist, ist ein sozialer Brennpunkt. Wie ist es für die geflüchteten Familien, deren Kinder bei euch im Kindergarten sind und die mit der deutschen Sprache noch Schwierigkeiten haben, in der Corona-Zeit gelaufen?
Eiche: Das Problem ist, dass all die Kurse nicht mehr stattgefunden haben. Wir haben sehr viele Mütter, vor allen Dingen auch alleinerziehende Mütter, die jetzt hier Fuß fassen wollen, die zu Sprachkursen oder Integrationskursen angemeldet waren. Die Schulen waren genauso wie die Schulen der Kinder geschlossen. Es hat gar nichts stattgefunden. In unserer eigenen Einrichtung, wir arbeiten als Familienzentrum, war mit dem Lockdown auch alles geschlossen. Jegliche Projekte wie unser eigener Sprachkurs fanden nicht statt. Auch die Eltern haben große Defizite. Wir haben Mütter, die Fortbildungen durch Jobcenter machen oder eine Ausbildung im Altersheim, was auch ganz schwierig war. Die haben nicht die Kenntnisse und die Möglichkeiten, Online-Kurse zu belegen. Das müssen sie jetzt alles nach und nach aufholen. Es ist eine ganz schwierige Zeit.
Im Grunde genommen war das für all die Eltern, für ihre Fortbildung, für das Weiterkommen ein Lockdown, genauso wie für die jungen Schüler. Ganz schwierig ist es für die Mütter, die nicht durch das Jobcenter finanzielle Hilfen erhalten, die das auch gar nicht wollen. Es gibt Mütter, die in verschiedenen Hotels als Reinigungskräfte arbeiten, die gar keine finanzielle Basis mehr hatten. Eine polnische Mutter wird wieder zurück in ihre Heimat gehen, weil sie hier nicht Fuß fassen kann. Wir versuchen unser Bestes, die Eltern zu beraten und zu unterstützen, an Ämter zu verweisen, aber es war grundsätzlich eine sehr schwierige Zeit. Und es bleibt, denke ich, auch weiterhin noch schwierig, weil viele ihre Jobs verloren haben. Die Hotels sind jetzt zum Beispiel nicht so gut besucht, dass da jeder wieder seine Arbeit aufnehmen kann. Viele sind arbeitssuchend. Das wird schwierig bleiben.
Himmelklar: Das alles bekommen die Kinder auch mit, wenn der normale Kita-Alltag wieder Einzug hält – wenn auch mit bestimmten Regeln und Abstand halten. Was gibt dir in so einer Zeit Hoffnung?
Eiche: Mir gibt erst einmal Hoffnung, dass die Kinder es leichter haben, sich an veränderte Situationen zu gewöhnen, als wir Erwachsene. So erlebe ich es. Ein großer Gewinn gerade für unsere Kinder hier, ist, glaube ich, dass die Kinder schneller eigenständig werden. So schwierig die Situation ist – meine Mama, mein Papa können nicht in die Kita – aber nach einer gewissen Zeit und durch viel Zuspruch durch die Erzieher, gibt es keine Tränen mehr. Sie schaffen das und sind auch stolz. Sie können jetzt zum Beispiel viel schneller alleine ihre Schuhe an- und ausziehen, weil sie es aus der Not heraus machen müssen. Da ist dann keine Mama, die sich hinkniet und ihnen schon die Pantoffeln anzieht. Ich glaube, dass das eine sehr positive Seite ist, dass die Kinder dadurch eigenständiger werden. Das wiederum spiegelt sich bei den Eltern wider. Wir bitten die Eltern, das auch zu Hause fortzusetzen.
Ich glaube, dass Kinder dadurch auch in vielen sozialen Komponenten gestärkt werden können. Sie helfen sich gegenseitig, die großen helfen den kleinen Kindern, die vielleicht noch mehr Unterstützung brauchen. Wenn man als Erzieher den Fokus darauf legt, was wir tun können, damit die Kinder gerade durch diese Besonderheiten schneller fit werden, ist es ein großer Gewinn.
Weil wir zur Zeit sehr wenig mit den Eltern zusammenarbeiten können, haben wir die Kinder im Moment im Fokus. Wir führen jetzt keine langen Entwicklungsgespräche. Da schauen wir erst einmal, wie wir das konzeptionell umsetzen können und wie das erste neue Kita-Jahr unter diesen Bedingungen wird. Zur Zeit führe ich Elterngespräche zum Beispiel im Freien. Gott sei Dank ist das Wetter gut, sodass wir das gut machen können. Wir haben draußen einen Tisch hingestellt und führen die Gespräche draußen. Wir sind dabei, Dinge neu zu entwickeln und zu gucken, was möglich ist.
Ich glaube aber, der große Gewinn liegt bei den Kindern. Vielleicht werden sie dadurch eigenständiger, selbstbewusster und gestärkter für die kommende Schulzeit. Wir wissen alle nicht, wie lange diese Bedingungen so schwierig bleiben. Vielleicht ist das ein Gewinn.
Das Interview führte Katharina Geiger.
Das Interview ist Teil des Podcasts Himmelklar – ein überdiözesanes Podcast-Projekt koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch und Katharina Geiger.