"Please scream inside your heart", stand auf den rosafarbenen Herzchen, die ein japanischer Vergnügungspark im vergangenen Jahr druckte. Eine gute Parole für alle, die überhaupt die Gelegenheit hatten, sich auf einer Achterbahn, bei einem Biergarten-Konzert oder einer Feier zu vergnügen. Beim Schreien oder Singen werden mehr Aerosole ausgestoßen als beim Atmen oder Sprechen - also heißt es, nicht singen, jubeln oder laut sein: bitte nur im Herzen schreien.
Der Slogan könnte auch das Motto der laufenden Karnevalssession sein. Der Auftakt am 11.11. fiel aus; statt voller Straßen und Kneipen gab es TV-Konzerte, bei denen der Zuschauer allein zu Haus immerhin doch aus voller Kehle mitsingen konnte. Bei solchen Übertragungen handle es sich jedoch um eine "Schwundform" von Karneval, sagt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Alle großen Feste seien auf Öffentlichkeit ausgelegt.
Das "exzessive Erleben von Gemeinschaft" fehlt
Karneval lebt zudem von der Vielfalt. Manchen geht nichts über den zentralen Rosenmontagszug, andere bevorzugen die kleinen Umzüge in den Stadtteilen. Der eine liebt die vollen Kneipen, der andere erfreut sich an lange vorbereiteten Sitzungen. In diesem Jahr wird es kaum etwas davon geben. Daher fehle allen der gemeinsame Kern, betont die Volkskundlerin Katrin Bauer - "das unmittelbare und exzessive Erleben von Gemeinschaft".
Dabei gehe es nicht unbedingt um Freunde und Familie, sondern um eine Gemeinschaft, die nur für diesen Moment besteht. Als Beispiel nennt die Forscherin die Feiernden in einer Kneipe: "Man kennt sich nicht, liegt sich aber trotzdem schunkelnd in den Armen - und ist Teil einer Gemeinschaft, die man emotional stark erlebt."
Solche Erlebnisse - das Bad in der Menge, das Verschmelzen mit dem Augenblick - lassen sich kaum virtuell nachempfinden oder gar erzeugen. "Wer verkleidet sich schon alleine zu Hause oder nutzt die Märklin-Eisenbahn, um einen Karnevalszug nachzustellen?", fragt Macho.
Ohne Satire und Rollentausch
Auch fehle ohne den Karneval ein Ventil für Kritik und Satire: "Bei den Rosenmontagszügen geht es nicht primär um eine Abrechnung mit den Mächtigen, sondern um einen humorvollen Blick auf ihre Fehler." Diese Perspektive gehe in der Schärfe öffentlicher Auseinandersetzungen bisweilen unter.
Der klassische Rollentausch zu Karneval, die verkehrte Welt, spielt auch in der demokratischen Gesellschaft noch eine wichtige Rolle. "Zum Beispiel in Büros werden die Rollen auf den Kopf gestellt", erklärt Bauer. Entscheidend sei nicht, "ob der Manager neben dem Angestellten feiert, sondern sie werden zur Gemeinschaft der Feiernden." Dieser Kern müsse langfristig gesehen erhalten bleiben, betont Macho: "Sonst funktioniert Karneval nicht mehr."
Die coronabedingten Einschränkungen belasten viele Menschen - auch diejenigen, die gesund und sozial abgesichert sind. "Schon das ganze Corona-Jahr fehlen uns außeralltägliche Erlebnisse: etwas anderes zu erleben als die Routine, Freiräume zu genießen", sagt Bauer. Momentan sei zudem eine gewisse Ernüchterung zu spüren: "Im Frühjahr war es noch aufregend, sich zum virtuellen Familienbrunch zu treffen - mittlerweile ist daraus Routine geworden."
Neue Routinen und eine "Event-Gefühl"
Die Lage könne einen durchaus auch dann bedrücken, wenn keine existenziellen Sorgen drohten, sagt Macho. "Aber letztlich ist der Verzicht auf Karneval ein kleines Opfer." Jeder habe derzeit auch einmal "das Recht zu jammern, denn es ist für jeden eine schwierige Situation", betont Bauer. Ob es um abgesagte Karnevalsfeiern gehe, den ausfallenden Ski-Urlaub oder eine verschobene private Feier: "Das verbindende Element, das uns allen fehlt, ist das Erleben von Gemeinschaft."
Wichtig sei, sich neue Routinen zu schaffen - und kleine Highlights, die ein "Event-Gefühl" ermöglichten. Macho rät dazu, die häusliche Wärme und Ruhe zu genießen, was an nasskalten Wintertagen eben auch eine Wohltat sein könne. Außerdem gelte es, Initiativen wie gemeinsames Online-Singen bewusst wahrzunehmen: "Es ist ganz wunderbar, wenn Kreativität und experimentelle Neugier entstehen. Bei allen Sorgen gibt es auch diese positiven Entwicklungen."