Was über den Caritas-Krimi in Luxemburg bekannt ist

Chronologie eines Skandals

In einem historischen Diebstahl wurden der Caritas Luxemburg mehr als 61 Millionen Euro gestohlen. Der Fall gibt viele Rätsel auf, denn zu viele Kontrollmechanismen haben versagt. Doch die Konsequenzen tragen nicht nur die Täter.

Autor/in:
Alex Witte
Altstadt von Luxemburg / © Mikalai Nick Zastsenski (shutterstock)
Altstadt von Luxemburg / © Mikalai Nick Zastsenski ( shutterstock )

Im Juli 2024 geht eine anonyme E-Mail bei der Caritas in Luxemburg ein. Man müsse schnell handeln, denn schon seit Monaten würden Millionen von Euro ins Ausland nach Spanien überwiesen. Eine Prüfung der Behauptung ergibt, dass tatsächlich über 60 Millionen Euro gestohlen wurden und das über einen Zeitraum von mehreren Monaten hinweg. 

Die Caritas erstattet daraufhin am 16. Juli Anzeige gegen eine hochrangige Mitarbeiterin, die im Verdacht steht, eine Schlüsselrolle in diesem Vorgang zu spielen. Es ist die Finanzdirektorin höchstpersönlich. Sie stellt sich kurz darauf freiwillig den Behörden, doch viele Fragen bleiben offen. Denn es handelt sich hier nicht um einen einfachen Diebstahl.

Über 120 Überweisungen auf spanische Konten

Nach aktuellem Ermittlungsstand hat die Finanzdirektorin seit Februar 2024 über 120 Überweisungen auf spanische Konten getätigt. Überwiesen wurden dabei immer fünfstellige Beträge, die sich auf ungefähr 30 Millionen Euro summieren. Die Finanzdirektorin gibt an, ihre Anweisungen von einer privaten Mailadresse erhalten zu haben, die sich ihr gegenüber als der Generaldirektor der Caritas ausgegeben habe. Das Geld habe dem Ankauf einer Firma dienen sollen, der Vorgang sei aber geheim. Deshalb dürfe die Finanzdirektorin auch nicht mündlich darüber sprechen. 

Kathedrale in Luxemburg / © Sina Ettmer Photography (shutterstock)
Kathedrale in Luxemburg / © Sina Ettmer Photography ( shutterstock )

Obwohl die Finanzdirektorin und der Generaldirektor an der gleichen Örtlichkeit arbeiteten und sich in dem Zeitraum auch mehrfach persönlich begegnen, sei es deshalb nie zu einem Gespräch zwischen den beiden gekommen, welches den Betrug wahrscheinlich sofort als solchen entlarvt hätte. 

Massives Versagen auf mehreren Ebenen

Doch das ist nicht die einzige Merkwürdigkeit an dem Fall. Die Finanzdirektorin gibt an, man habe sie aufgefordert, auf allen Überweisungen einen Empfänger anzugeben, der nicht mit dem Kontoinhaber übereinstimmt. Vorgetäuscht wird, dass das Geld an Partnerorganisationen der Caritas fließe, was allerdings nicht der Fall ist – die Finanzdirektorin weiß das auch. 

Da die über 120 Überweisungen mit den hohen Geldbeträgen über zwei luxemburgische Banken abgewickelt werden, können dazu befragte Finanzexperten heute nicht nachvollziehen, dass auch bei den Banken niemand gemerkt hat, dass es bei den Überweisungen auffällige Unstimmigkeiten gibt. 

Kredite bei Geberbanken

Einige Male kommt es innerhalb der Caritas zu Situationen, bei denen der Betrug fast auffliegt. Die Finanzdirektorin erfindet aber schnell Ausreden für die seltsamen Überweisungen. Scheinbar hakt niemand weiter nach. Bei der luxemburgischen Caritas gilt eigentlich ein Sechs-Augen-Prinzip: Der Finanzdienst bereitet die Überweisung vor und zwei weitere Personen aus der Generaldirektion müssen das Ganze absegnen. Diesen Mechanismus konnte die Finanzdirektorin aber nicht nur in einem, sondern in mehr als 120 Fällen umgehen.

In einer weiteren Phase werden dann weitere 30 Millionen Euro gestohlen. Als der Generaldirektor der Caritas im Juni im Urlaub ist, nimmt die Finanzdirektorin mit Geberbanken drei Kredite auf – einmal 16 Millionen Euro, einmal 10 Millionen Euro und einmal 6 Millionen Euro. Auch hier greift scheinbar kein Kontrollmechanismus. In der Finanzabteilung arbeiten zu diesem Zeitpunkt 15 Personen, von denen allerdings niemand Alarm schlägt. Der Führungsstil der Finanzdirektorin gilt firmenintern als sehr hart, weshalb einige kritische Mitarbeitende kündigen oder vielleicht auch schwiegen. Doch da scheinbar weiterhin nicht bekannt ist, wer im Juli die anonyme E-Mail an die Caritas geschrieben hat, durch die der ganze Betrug aufgeflogen ist, könnte es durchaus sein, dass der Whistleblower doch ein Mitarbeiter der Finanzabteilung ist.

Täter oder Opfer?

Die Staatsanwaltschaft scheint momentan die Spur eines "Präsidentenbetruges" zu verfolgen. So bezeichnen Fachleute eine Masche, bei denen sich Externe Zugang zu einer Firma verschaffen und so an Insiderwissen gelangen, mittels dessen ein solcher Betrug möglich ist. Solche Präsidentenbetrüge sind teilweise über Jahre angelegt. 

Aktuell muss noch geklärt werden, ob die Finanzdirektorin Opfer oder Komplizin ist. Fest steht, dass sie nicht alleine gehandelt hat. Ihrer Verteidigung nach sei sie auf die Mails reingefallen – an dieser Darstellung bestehen aber von einigen Seiten Zweifel. Ehemalige Mitarbeitende beschreiben die Frau als vieles, aber nicht naiv. Und auch der Umstand, dass sie über Monate hinweg nie das Gespräch mit ihrem Vorgesetzten gesucht hat, ist zumindest bemerkenswert. 

Premierminister erklärt Fall zur Chefsache

Wesentlich dramatischer als der Betrug selbst sind die Konsequenzen, die der Vorgang nun hat. Kurz nach Auffliegen des Betrugs wird eigens ein Krisenkomitee eingerichtet. Hier geht es vor allem um eine schnelle Schadensbegrenzung und darum, das Vertrauen in die Organisation wiederaufzubauen. Die Caritas wird deshalb in einen internationalen und einen nationalen Zweig aufgeteilt. 

Luxemburgs Premierminister Luc Frieden (dpa)
Luxemburgs Premierminister Luc Frieden / ( dpa )

Premierminister Luc Frieden kündigt an, dafür zu sorgen, dass die nationalen Aktivitäten weitergeführt und Arbeitsplätze erhalten werden können. Was mit dem internationalen Zweig geschehen soll, bleibt zunächst unklar. Mitte August entscheidet der Staat schließlich, wieder Gelder für die Caritas bereitzustellen – allerdings nur für die Entitäten der Organisationen, für die keine Kredite aufgenommen wurden und die auch nicht direkt von der Unterschlagung betroffen waren. Dies ist notwendig, damit die Caritas ihre Luxemburger Projekte weiterführen kann und vor allem damit den Mitarbeitenden überhaupt Gehälter ausgezahlt werden können. Innerhalb der Regierung übernimmt Frieden höchstpersönlich die Angelegenheit, macht sie also zur "Chefsache". 

Existenzen vor dem Aus

Zeitgleich – also erst einen Monat nach Bekanntwerden des Vorgangs – meldet sich das Bistum Luxemburg das erste Mal zu dem Vorfall. In einem Schreiben äußert sich Kardinal Jean-Claude Hollerich entsetzt über den Vorgang. Die Verantwortung liege nun beim Krisenkomitee, es sei vor allem wichtig, das Vertrauen in die Caritas zu erhalten. 

Jean-Claude Kardinal Hollerich / © Romano Siciliani (KNA)
Jean-Claude Kardinal Hollerich / © Romano Siciliani ( KNA )

Die Caritas Stiftung wurde vom Bistum gegründet und steht der Kirche weiterhin nahe, allen ihren Aktivitäten liegen christliche Beweggründe zugrunde, trotzdem sieht sich das Bistum scheinbar nicht in der Verantwortung. Ab dem ersten Oktober wird der neu gegründete Verein ohne Gewinnzweck "Hëllef um Terrain" (HUT) die nationalen Aktivitäten der Caritas übernehmen – ohne Beteiligung des Bistums. So sollen 350 Arbeitsplätze in Luxemburg gerettet und 20.000 Menschen, die auf die Caritas angewiesen sind, weiter versorgt werden, unter anderem Geflüchtete und wohnungslose Menschen. 

Caritas Stiftung vor dem Aus?

Ende September scheint das Gewissheit zu werden, was Mitarbeitende bereits fürchten: Die Caritas Stiftung steht Medienberichten nach vor dem Aus. Sie hat scheinbar kein Geld, um ihre Aktivitäten fortzuführen oder ihr Schulden zu begleichen. Hier wäre nun das Bistum gefragt, welches aber weiter schweigt.

Offiziell sollen ab dem 1. Oktober die luxemburgischen Caritas-Angestellten zum Arbeitgeber HUT wechseln. Was sie dort genau erwartet, ist aber weiter unklar. Dem Gewerkschaftsbund OGBL nach werden die Angestellten unter immensen Druck gesetzt, so schnell wie möglich einen Vertrag mit HUT zu unterschreiben oder zu gehen. Ein Sprecher der OGBL kritisiert diese Intransparenz als "Sauerei" und droht mit Streik.

130 Arbeitsplätze sind verloren

Was allerdings bereits jetzt feststeht: Die internationalen Aktivitäten der luxemburgischen Caritas können nicht weitergeführt werden, 130 Arbeitsplätze sind verloren. Tausende von Menschen, die im Südsudan und Laos auf die Caritas angewiesen sind, stehen nun vor existenziellen Problemen. Besonders im Südsudan sind die Folgen für die lokale Bevölkerung verheerend, denn hier könnten bis zu 60.000 Personen ihren Zugang zu medizinischer Versorgung verlieren. Michael Feit, Leiter der Abteilung für Internationale Zusammenarbeit der Caritas Luxemburg, bringt die Konsequenzen des Diebstahls in einem Radio-Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Sender 100,7 folgendermaßen auf den Punkt: "Ich weiß, dass es Kinder gibt, die verhungern werden".

Die bittere Ironie an der Sache: Da die Finanzen innerhalb der Caritas schon lange intransparent waren, wurde die angeklagte Finanzdirektorin 2019 nach Informationen des Senders 100,7 eigentlich mit dem Auftrag eingestellt, genau diese Situation zu verbessern. Eine externe Firma, die die Caritas hierbei unterstützen soll, stellt ihre ersten konkreten Vorschläge Anfang März im Unternehmen vor – kurz also, nachdem die erste Überweisung nach Spanien getätigt wird.

Quelle:
DR