Dieser Artikel stammt von Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und erscheint in der neuen Ausgabe der katholischen Wochenzeitung "Die Tagespost" und auf die-tagespost.de. DOMRADIO.DE übernimmt mit freundlicher Genehmigung der Johann Wilhelm Naumann Verlag GmbH.
"Der Zölibat gehört abgeschafft!“ Neu ist diese Forderung nicht! Sie ist geradezu „konservativ“. Schon in meiner Kindheit und Jugend war der Slogan zu hören. Und auch heute – angefeuert durch den Missbrauchsskandal – wird diese Forderung oft emotionalisiert und vehement vorgetragen. Dabei frage ich mich immer wieder: Warum wird meine zölibatäre Lebensweise immer wieder von Menschen so heftig kritisiert, die sie gar nicht leben müssen? Ich habe mich doch dafür entschieden, nicht sie! Zur Wehr setze ich mich dann, wenn vom „Zwangszölibat“ die Rede ist.
Ich empfinde das als diffamierend. Als freier Mensch habe ich mich für diese Lebensweise entschieden, niemand hat mich dazu gezwungen. Und wieso werde ich eigentlich für eine Lebensweise bedauert, die ich freiwillig gewählt habe – im Unterschied zu etwa zwei Millionen Männern in Deutschland, die unfreiwillig allein leben? Wenn ich jedoch Gelegenheit habe, Menschen Hintergründe der zölibatären Lebensform zu erläutern und Herausforderungen zu benennen – die es in der ehelichen Lebensform ja ebenso gibt –, klingen recht schnell die Unsachlichkeiten ab und Verständnis wächst.
Nach Veröffentlichung der „Missbrauchsstudie“ (MHG-Studie) im Herbst 2018 nahm die Debatte um den Zölibat erneut Fahrt auf. Nur wenige Tage nach Erscheinen forderte zum Beispiel der Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Köln in seiner Reaktion auf diese Studie: Das kirchliche Zölibatsgesetz „muss abgeschafft werden“. Eine solche Forderung ist zumindest bemerkenswert. In der Missbrauchsstudie heißt es: „Der Zölibat ist eo ipso kein Risikofaktor für sexuellen Missbrauch“ (MHG-Studie S. 17).
Durch den Leib zur Wirklichkeit
Wieso erwähnt der Diözesanrat diese Feststellung nicht? Zudem hält die Studie „eine differenzierte Betrachtung der Thematik für angezeigt“. Wieso greift der Diözesanrat diesen Vorschlag nicht auf? Sollte es wirklich sein, dass die Missbrauchsstudie nur als Anlass dient, eine ohnehin vorhandene Agenda voranzubringen? Ich schlage vor, dass wir uns die Empfehlung der Missbrauchsstudie tatsächlich zu Herzen zu nehmen und differenziert auf das Thema Zölibat blicken.
Der heilige Johannes Paul II. hat sich Zeit seines öffentlichen Wirkens – auch vor seiner Wahl zum Papst – intensiv mit der menschlichen Person beschäftigt und dabei die Bedeutung des Leibes hervorgehoben. Ja, er hat sogar eine „Theologie des Leibes“ entwickelt. Ein Kernsatz dieser Theologie lautet: „Der Leib, und nur er, kann das Unsichtbare sichtbar machen: Das Geistliche und das Göttliche“ (Johannes Paul II., Katechese 19,4). Unser Leib ist nicht etwas Äußerliches oder gar Belangloses, er gehört zu unserem Menschsein dazu. Wir haben keinen Leib, wir sind Leib. Unser Leib ist so etwas wie das Instrument unserer Seele.
So wie in der Musik jede Komposition erst durch ein Instrument zum Klingen und damit zur Wirklichkeit kommt, so kommt erst unser Menschsein durch den Leib zur Wirklichkeit. Wenn Eltern ihre Kinder umarmen und an ihr Herz drücken, so ist dies mehr als nur ein Zeichen von Liebe. Es ist Verwirklichung von Liebe. Ein tröstendes Wort für einen Trauernden ist nicht nur Zeichen einer Zuwendung, sondern wirklich Zuwendung. Und das „Ein-Fleisch-Werden“ (Markus 10,8) der Eheleute ist mehr als nur ein Zeichen ihrer gegenseitigen Hingabe, sondern Sichtbarmachung und Verwirklichung derselben.
In diesem Horizont gewinnt der Zölibat eine besondere Tiefe. Er bedeutet nicht einfach ein Sich-Einfügen in die kirchliche Ordnung. Der Zölibat erschöpft sich auch nicht im – bisweilen schmerzvollen – Verzicht auf eine eigene exklusive Zweierbeziehung, um Raum und Zeit zu haben für die Vielen. Und er meint sogar mehr als „nur“ die Übernahme der Lebensform Jesu – ihn soll ja der Priester in seinem Leben berührbar machen. Der Zölibat bedeutet Hingabe an Christus, mit Leib und Seele. Und mit Christus und durch ihn bedeutet er Hingabe an die Menschen. Es geht darum, durch die zölibatäre Lebensform das offene Herz Jesu berührbar zu machen. Priestersein ist Herzensangelegenheit, sonst verkommt es zur Karikatur.
In der Gnade und Zuwendung Gottes
Mit meinem „Adsum“ bei der Weihe habe ich mich Christus ganz und vorbehaltlos verschenkt, inklusive meiner Sexualität. Das gilt im Übrigen auch für die Hingabe der Eheleute aneinander: Sie schenken sich einander ganz und vorbehaltlos, mit Leib und Seele, inklusive ihrer Sexualität. Und beide Lebensweisen sind auf Fruchtbarkeit ausgerichtet: Die Ehe, um irdisches Leben der priesterliche Zölibat, um geistliches Leben zu stiften. Hingabe bedeutet dabei nicht ein Sich-Verlieren, sondern Sich-Finden. „Wir sind keine Hungerkünstler der Liebe“, sagte Kardinal Meisner gerne.
Wer sich verschenkt, ist der Beschenkte. Wer die Liebe gefunden hat, hat das Glück gefunden. Das ist die Logik Gottes und des Evangeliums. Beide Lebensformen sind nur lebbar in der Gnade und Zuwendung Gottes. Göttliches und Menschliches kommen hier zusammen, geistliche Tiefe und der gelebte Alltag. Wir leben in einer Zeit, in der die zölibatäre Lebensform unter ganz spezifischen Herausforderungen steht. Denen müssen wir Priester uns stellen, aber nicht nur wir, sondern alle, die in der Kirche in irgendeiner Weise Verantwortung tragen.
Die Missbrauchsstudie kommt zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass die angeschuldigte Erst-Tat im Mittel 14,3 Jahre nach der Priester- beziehungsweise Diakonenweihe erfolgte. Offensichtlich haben sich die späteren Täter nicht mit Tat-Vorsatz weihen lassen. Es gab Jahre, in denen sie unbescholten ihren Dienst getan haben. Was ist in diesen Jahren geschehen, dass Priester zu Missbrauchstätern wurden? Was hat diese Entwicklung begünstigt? Diese Fragen bedürfen – ohne die Täter aus ihrer Verantwortung zu entlassen – einer intensiveren Untersuchung und differenzierten Betrachtung, wie es die Studie fordert.
Die Studie „Zwischen Spirit und Stress“ von Jacobs unter anderem über die „Seelsorgenden in den deutschen Diözesen“ kommt zu dem Ergebnis, dass es einen deutlich nachweisbaren Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und geistlichem Leben gibt. Wie sollte es auch anders sein? Wenn es im Priestersein um Hingabe mit Leib und Seele geht, dann geht es doch um eine lebendige Beziehung, die im Alltag gepflegt werden will. Verflüchtigt sich die lebendige Beziehung mit Gott, so wird auch das tragende Fundament für den Zölibat brüchig. Alarmierend ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass etwa die Hälfte der Priester nur einmal im Jahr oder weniger zur Beichte geht. Wir müssen uns die Frage stellen: Was können wir tun, um Priester in ihrem geistlichen Leben zu unterstützen, damit es nicht verflacht oder gar abbricht.
Welcher Rahmenbedingungen bedarf es?
Wir leben in einer Zeit, in der weniger werdende Priester für größer werdende Flächen verantwortlich sind. Was hat das für Konsequenzen für eine priesterliche Lebenskultur? Wie steht es um die Gefahr der Isolation und Vereinsamung? Gerade jüngere Priester wünschen sich zunehmend Formen gemeinschaftlichen Lebens. Sie haben den Wunsch, zu mehreren an einem Ort zu leben. Sie wollen nicht vereinsamen, sondern unkompliziert Gemeinschaft pflegen in Gebet und Geselligkeit.
Allein schon die Immobilienlandschaft in unseren Pfarreien macht es schwer, solchen Wünschen entgegenzukommen. Hier muss von den Verantwortlichen aktiv gegengesteuert werden. Ich habe das Glück, eine große Familie zu haben, die mich im Hintergrund trägt. Zudem wohne ich mit einem befreundeten Mitbruder in einem Haus. Ich muss Freud und Leid – außer mit dem lieben Gott – nicht mit mir allein ausleben. Aber wie viele haben dieses Glück? Wir Bischöfe müssen uns sehr deutlich die Frage stellen: Welcher Rahmenbedingungen bedarf es, damit das Priestersein in der zölibatären Lebensform auch heute froh lebbar ist?
Die Missbrauchsstudie fordert zu Recht dazu auf, schon vor der Priesterweihe dafür zu sorgen, dass die „Voraussetzungen für eine emotionale und sexuell reife Persönlichkeitsentwicklung der Priesteramtskandidaten“ gegeben sind. Dazu wird eine angemessene Begleitung angemahnt. Hier ist nach meiner Wahrnehmung gerade in den letzten Jahren viel geschehen. Doch der Umgang mit der eigenen Sexualität ist nicht nur ein Thema für Priesterseminare. Das Thema wird jeden Priester – wie im Übrigen jeden Menschen – ein Leben lang begleiten. Daher ist es wichtig, dass er auch mit diesem Thema nicht alleingelassen wird. Jeder Sportler braucht auf seinem Weg einen Trainer und jeder Priester – und auch Bischof – einen geistlichen Begleiter, der ihm hilft, diese und anderen Herausforderungen des Lebens anzunehmen.
Keine neuen Argumente
Der priesterliche Zölibat ist und bleibt eine Herausforderung. Ebenso ist und bleibt die unauflösliche sakramentale Ehe eine Herausforderung. Das gesamte Christsein ist eine Herausforderung. Christus ist nicht in die Welt gekommen, um uns etwas zu schenken, sondern sich selbst. Und er ruft uns, ihm nicht nur etwas zu geben, sondern uns selbst. „Der Leib und nur er kann das Unsichtbare sichtbar machen – das Geistliche und das Göttliche.“ Der priesterliche Zölibat macht sichtbar, dass Worte wie Hingabe und Nachfolge keine Gedankenspiele sind, sondern ein Lebensprogramm für Leib und Seele ist, eine Lebensentscheidung, die froh macht und erfüllt.
Der Zölibat macht nur Sinn, wenn Christus, der gekreuzigte und auferstandene Gottessohn, eine Realität ist. Einer Welt, der Christus zunehmend fremd geworden ist, muss daher die zölibatäre Lebensform eine Provokation sein. Sie ist dabei nur ein dumpfes Echo jener Provokation, die Jesus Christus selbst ist. Mit dem priesterlichen Zölibat hat Gott der Kirche ein in der Heiligen Schrift wurzelndes und in Jahrhunderten gewachsenes Charisma anvertraut.
Dieses Charisma „verleiblicht“ Sinn und Sendung des Priesters: Jesus Christus in dieser Welt sichtbar, hörbar und berührbar zu machen. Im Übrigen ist der Zölibat immer unzeitgemäß, weil er über die Zeit hinausweist auf den, der war, der ist und der kommen wird. Es wäre fatal, wenn dieses Charisma zur Disposition gestellt würde und auch noch wir Bischöfe uns daran beteiligten. Neue sachliche Argumente gegen den Zölibat liegen nicht auf dem Tisch. Einer Aufarbeitung des Missbrauchs würde das ebenso wenig dienen wie einer – dringend nötigen – inneren Erneuerung in der Kirche. Denn nie gab es Erneuerung durch ein Weniger, sondern immer nur durch ein mehr an Hingabe.
(Weihbischof Dominikus Schwaderlapp für "Die Tagespost")