Welche Rolle hat die Politik in der Missbrauchsaufarbeitung?

"Wir sehen, das reicht nicht"

Nach der Veröffentlichung des Münchener Missbrauchsgutachtens fordern immer mehr Stimmen ein Eingreifen des Staates. Der Beauftragte für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD erklärt, worauf es dabei für die Politik ankommt.

Symbolbild Missbrauch / © Harald Oppitz (KNA)
Symbolbild Missbrauch / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Dieser Tage mehren sich die Rufe nach einem stärkeren Engagement der Politik bezüglich der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Auch Sie fordern dies schon seit Längerem, jüngst erst in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Nun sind diese Taten aber nicht erst seit gestern bekannt. Wieso hat sich die Politik bisher weitgehend zurückgehalten?

Prof. Dr. Lars Castellucci (Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD-Bundestagsfraktion): Die Politik ist tätig geworden, nachdem das losging mit der Aufdeckung im Canisius-Kolleg, also in den Jahren 2010 und den folgenden Jahren mit einem runden Tisch. Es sind Institutionen geschaffen worden. Das Amt des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung wurde damals geschaffen. Dazu dann die Funktionen, die auch er mitentwickelt hat, die Aufarbeitungskommissionen. Es gibt einen Nationalen Rat (gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen). Es sind immer wieder Gesetze verschärft worden, wenn in unterschiedlichen Bereichen, auch im Bereich der Familien oder im privaten Umfeld, im Bereich des Ehrenamts Taten ans Licht gekommen sind. Aber es hilft ja nichts. Wir sehen, das reicht nicht. Und insbesondere können wir so keine Wunden heilen für diese ganz lange zurückliegenden Fälle. Wir sehen auch, wenn wir jetzt erst beim fünften Gutachten sind, das aus einem Bistum kommt, dass wir die Kirchen da auch nicht einfach so weiter arbeiten lassen können. Wo soll das hinführen?

DOMRADIO.DE: Jetzt sagen Sie: Es reicht nicht. Wie könnte denn die Begleitung durch die Politik konkret aussehen?

Lars Castellucci (privat)
Lars Castellucci / ( privat )

Castellucci: Wir brauchen Tempo, wir brauchen Verbindlichkeit, wir brauchen Unabhängigkeit und es muss am Ende auch irgendwo stehen, was das jetzt heißt, was da alles aufgearbeitet worden ist. Im Moment sind diese Gutachter ja im Prinzip Staatsanwaltschaften, Verteidiger und Richter in einem. Das funktioniert nicht. Und das wird ja nun auch ganz offensichtlich bei jeder Vorstellung von einem neuen Gutachten und der Diskussion, die danach losgeht.

Also zunächst mal braucht es eben Aufarbeitung mit aller Konsequenz. Das kann nicht sein, dass da unterschiedliche Jahreszahlen angelegt werden, je nachdem vielleicht, wo auch irgendjemand ausgespart werden soll. Solche Verdachte liegen immer nahe. Das hilft ja überhaupt nicht. Wir brauchen Vertrauen in diesen ganzen Aufarbeitungsprozess – und nicht immer neues Misstrauen. Deswegen müssen da Transparenz und auch ein externer Blick her. So ein Standard der Aufarbeitung, dass die Sachen auf den Tisch kommen, dass sie nach gleichen Verfahren auch entwickelt werden. Und wir müssen ja noch zu dem ganzen Hellfeld, um das es im Moment bei den Gutachten geht, auch das Dunkelfeld mit in den Blick nehmen, damit wir zu einer Gesamteinschätzung des Phänomens kommen. Im Übrigen sage ich das immer nicht nur, was den Bereich der Kirchen angeht, sondern das ist ein Thema der ganzen Gesellschaft. Da müssen wir uns insgesamt der Sache stellen, egal wo es auftritt. Am meisten ja leider im familiären Umfeld. Das ist der eine Teil.

Und wenn diese Aufarbeitung dann stattfindet, wenn da Forschung stattfindet, wenn da die Fakten auf dem Tisch sind, dann braucht es eben auch eine Klarheit: Was soll denn jetzt passieren? Also einmal mit Blick auf Verantwortungsübernahme und dann auch mit Blick auf die Zukunft, dass solche Taten nicht wieder passieren. Diese Unabhängigkeit, dass so eine Aussage und so eine Ansage getroffen werden können, das würde ich mir versprechen von der Aufarbeitungskommission, die im Moment schon besteht, die aber ehrenamtlich arbeitet. Im Moment ist sie auch nur im Rumpf tätig, weil einige Mitglieder ausgeschieden sind, darunter sogar die Vorsitzende. Das müssen wir jetzt in dieser Wahlperiode schleunigst neu aufstellen, damit die handlungsfähig ist und das tun kann, was ihre Namensgebung ja auch eigentlich erwarten lässt, nämlich das aufgearbeitet wird.

Prof. Dr. Lars Castellucci, religionspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion

Wir brauchen Tempo, wir brauchen Verbindlichkeit, wir brauchen Unabhängigkeit und es muss am Ende auch irgendwo stehen, was das jetzt heißt, was da alles aufgearbeitet worden ist.

DOMRADIO.DE: Jetzt haben wir über das Engagement der Politik gesprochen, aber ein Punkt, der auch ins Gewicht fällt, ist die Justiz. Der Passauer Strafrechtsprofessor Holm Putzke kommt zu dem Schluss, den Strafverfolgungsbehörden sei der Vorwurf zu machen, kriminelles Verhalten in der katholischen Kirche anders zu behandeln als zum Beispiel Kriminalität in Wirtschaftsunternehmen oder in Schulen und Internaten. Würden Sie dem zustimmen?

Castellucci: Der Vorwurf ist nicht neu. Der wird immer wieder erhoben. Es kann schon sein, dass man eher in ein Unternehmen geht und mal dort die Akten sich anschaut, als ein Bistumshaus zu stürmen und zu sagen: Hier sind wir vor der Tür und wir hätten gerne jetzt Zutritt. Ich will das gar nicht beurteilen, ich kann es auch nicht beurteilen.

Das Problem ist auch, diese Diskussion löst ja nichts, sondern die meisten Fälle sind – egal, welche Fragen dahinter liegen, welche Motive dahinter liegen oder welche Zögerlichkeiten dahinter liegen, die Fälle sind ja in den allermeisten Fällen schon so lange zurück, dass Staatsanwaltschaften heute sowieso nicht mehr tätig werden können, weil Verjährungsfristen greifen. Deswegen ist es wichtig, dass man ein anderes Verfahren findet, um trotzdem den Opfern gerecht zu werden. Und das kann man nicht alleine den Kirchen überlassen, sondern da müssen wir staatlicherseits aktiver werden.

DOMRADIO.DE: Sie haben es angesprochen, die Verjährungsfristen sind ein großes Problem für sexuellen Missbrauch. Liegen die bei zehn Jahren in besonders schweren Fällen bei 20 Jahren ab Volljährigkeit des Opfers. Viele Betroffene bringen jedoch erst Jahre später die Kraft auf, über ihre traumatischen Erfahrungen zu sprechen. Der Münsteraner Generalvikar Norbert Köster fordert deshalb ein Ende der Verjährungsfristen beim sexuellen Missbrauch. Wäre das nicht eine Idee?

Castellucci: Auch eine Frage, die immer wieder diskutiert wird. Da ist auch schon etwas gemacht worden, es sind auch Haltefristen eingeführt worden, sodass da teilweise die Zeit angehalten wird und die Verjährung erst später läuft. Aber Verjährungsfristen haben ja auch ihren Sinn. Manche Opfer wollen sich der Frage ja auch nicht noch mal stellen und das ganze Leid noch mal durchleben. Und in solchen Fällen haben Verjährungsfristen tatsächlich für beide Seiten einen Sinn, dass man irgendwann einen Strich drunter gezogen hat und sagt: So, das war es jetzt.

Ein zweites Argument ist, dass wir bei Mord keine Verjährungsfrist haben, bei Vergewaltigung oder Missbrauch aber schon. Und es wird immer wieder eine Befürchtung geäußert: Wenn ein Täter ein Opfer vergewaltigt und dann ahnt, dass das ohnehin das gleiche Strafmaß hat, das es dann auch nicht mehr weit ist, dass er auch sogar das Opfer umbringt, also dass da noch mal Grenzen bei den Tätern verschwimmen könnten.

Ich mache mir diese Argumentation nicht zu eigen, aber sie sind immer wieder so da, dass diese Fragen nicht angepackt werden. Ich glaube, unter dem Strich sind die auch nicht wirklich zielführend, sondern wir müssen einfach konsequent mit dem umgehen, was wir heute in der Hand haben und auch dabei bleiben – nicht immer nur aufgeregt, wenn irgendwo ein Gutachten wieder veröffentlicht wird, sondern konsequent jetzt auch das abarbeiten, was in dem Koalitionsvertrag der Ampel verankert ist.

Das ist wirklich ein Quantensprung, was das Thema Kinderschutz angeht, was dort erreicht werden konnte. Da soll wirklich in allen gesellschaftlichen Bereichen von einem unabhängigen Zentrum für "Safe Sport" über Gesetzesverschärfungen, die angelegt sind, und auch eine Stärkung der Institutionen, die ich genannt habe. Das muss jetzt umgesetzt werden. Und ich glaube, das ist die zentrale Aufgabe, das auch wirklich umzusetzen, was wir uns vorgenommen haben.

Das Interview führte Moritz Dege.

Missbrauchsgutachten: Schwere Vorwürfe gegen Benedikt XVI. und Kardinal Marx

Das lange erwartete Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München-Freising belastet amtierende und frühere Amtsträger schwer, darunter auch den emeritierten Papst Benedikt XVI.

Joseph Ratzinger habe sich in seiner Amtszeit als Münchner Erzbischof (1977-1982) in vier Fällen fehlerhaft verhalten, heißt es in der am Donnerstag in München vorgestellten Untersuchung der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW). Erzbischof Kardinal Reinhard Marx, werfen die Anwälte unter anderem vor, sich nicht ausreichend um Fälle sexuellen Missbrauchs gekümmert zu haben.

Münchner Missbrauchsgutachten / © Sven Hoppe/DPA-Pool (KNA)
Münchner Missbrauchsgutachten / © Sven Hoppe/DPA-Pool ( KNA )
Quelle:
DR