DOMRADIO.DE: An diesem Montag erscheint Ihre Biografie über Friedrich Merz. Jeder, der Kanzler oder Kanzlerin werden will, hat ein bestimmtes Image. Friedrich Merz wird oft als distanziert beschrieben. Als jemand, der als neoliberal verschrien, bei Jüngeren nicht gut ankommt. Sie haben mit ihm für Ihr Buch und bei anderer Gelegenheit persönlich gesprochen. Wie erleben Sie Merz als Politiker und Mensch?
Volker Resing (Buchautor und Journalist, u. a. Ressort Innenpolitik bei der Monatszeitschrift "Cicero"): Für Friedrich Merz gilt etwas, was für viele Politiker gilt, nämlich dass das mediale Bild immer mit der realen Person auseinanderklafft. In seinem Fall haben sich in den über 30 Jahren, die er in der Politik ist, bestimmte Klischees und Bilder festgesetzt, die man nicht mehr so ganz beiseiteschieben kann. Die haben aber doch immer auch ein Fünkchen Wahrheit, zeigen aber sicherlich nicht die ganze Person. Das gilt insbesondere für den persönlichen Umgang. Friedrich Merz ist im persönlichen Umgang sehr angenehm. Er hat gar keine Allüren, wie man sie durchaus bei anderen Politikern finden kann. Das hat vielleicht damit zu tun, dass er zwischendurch zehn Jahre nicht in der Politik war. Er wirkt im Umgang manchmal gar nicht wie ein Politiker.
DOMRADIO.DE: In den USA ist es üblich, dass Kandidaten für ein öffentliches Amt ihren Glauben offen zeigen, sodass ganz klar ist, wie sie religiös "ticken". In Deutschland ist das eher unüblich. Merz' Vorgänger Armin Laschet zum Beispiel ist sehr katholisch geprägt und stand dazu auch. Wie offen oder verdeckt zeigt Merz seine religiöse Prägung?
Resing: Friedrich Merz ist praktizierender Katholik. Aber er zeigt das nicht so. Es ist kein Teil seiner öffentlichen Darstellung. Es gibt in Deutschland eine sehr prägende Kraft innerhalb der CDU, nämlich den politischen Katholizismus. Der hat die CDU sehr stark geprägt.
Da gibt es eine bestimmte Gruppe, die das besonders stark gemacht hat und zwischen katholischen Akademien, Katholikentag und Parlamenten ihre politische Wirkung entfaltet hat. Dazu gehören Namen wie Werner Remmers, Bernhard Vogel, Norbert Lammert. Zu diesem Teil der CDU hat Friedrich Merz nie gehört. Aber man kann natürlich auch mit einer wirtschaftsliberalen Prägung Katholik sein.
DOMRADIO.DE: Prägend für eine christliche Wirtschaftspolitik ist die christliche Gesellschaftsethik, die katholische Soziallehre. Merz wird oft als neoliberaler Wirtschaftsfreund gesehen. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass er Mitglied der katholischen Kolpingsfamilie sei. Wie nah oder fern sind sich Merz und die katholische Soziallehre? Liegen Welten dazwischen?
Resing: Nein, ich glaube nicht, dass Welten dazwischen liegen, aber es gibt unterschiedliche Akzentsetzungen. Im politischen Diskurs hat sich eingeübt, dass man irgendwie nicht so richtig katholisch ist, wenn man nicht alle Positionen des Deutschen Caritasverbandes teilt. Das bildet natürlich nicht die ganze politische Wirklichkeit ab.
Friedrich Merz ist im katholischen Sauerland aufgewachsen und dazu gehört eine bestimmte Sozialisation, etwa durch die katholische Jugend, die Messdiener, vielleicht auch die Kolpingsfamilie. Das heißt nicht, dass sich seine politischen Überzeugungen eins zu eins ableiten lassen aus dem, was etwa der Caritasverband sagt, oder der Sozialbischof der Bischofskonferenz. Es gibt da sicherlich Differenzen, aber das muss man als Normalität des politischen Diskurses ansehen. Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass es Katholikinnen und Katholiken in allen Parteien gibt und nicht nur in der Union.
DOMRADIO.DE: Bekannt ist, dass Friedrich Merz aus dem Sauerland stammt und katholisch ist. Zugleich ist er in einer gemischt konfessionellen Familie aufgewachsen. Er führt auch mit seiner Frau eine konfessionsverbindende Ehe. Sie ist engagierte evangelische Christin. Merz gilt als politisch konservativ, aber gilt das für ihn mit Blick auf die Kirchenpolitik auch? Ist er dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken mit ihren Reformwünschen nah oder hat er eine kirchliche Position, die man so eindeutig gar nicht identifizieren kann?
Resing: Generell ist Kirchenpolitik nicht so sehr sein Thema, das sollte man schon sagen. Tatsächlich ist seine Biografie nicht so schematisch, wie man sich das denken könnte. Sein erster Sohn wurde beispielsweise unehelich geboren. Auch das mag damals noch eher ungewöhnlich im Sauerland gewesen sein. Überhaupt geht es in seiner Familie konfessionell gesehen hin und her.
Sein Vater ist originellerweise beim heutigen Bischof Wiesemann von Speyer zum Katholizismus konvertiert, während die Kinder von Friedrich Merz wiederum evangelisch aufwuchsen. Diese evangelische Prägung bedeutet wahrscheinlich auch eine eher liberale Haltung in kirchlichen Dingen.
Er hat mal gesagt, dass die katholische Kirche Reformen brauche, aber ob er auf der anderen Seite mit allem, was der Synodale Weg an Reformen fordert, einer Meinung ist, weiß ich nicht. Ich vermute, dass das nicht so ein Thema für ihn ist. Was ich sagen würde, ist, dass er eher einen gesellschaftlichen Blick auf die Kirche hat. Vielleicht sogar so wie Armin Laschet, der ja sehr katholisch geprägt ist.
Beide meinen, dass die katholische Kirche eine wichtige Rolle in unserem Gemeinwesen spielt, dass sie eine subsidiäre Struktur unseres Gemeinwesens bildet, in der Familien, Gemeinden oder kirchliche Gruppierungen eine Grundlage für unser demokratisches Miteinander finden. Das findet er wichtig. Deshalb muss sich die Kirche so aufstellen, dass sie nicht nur hierarchisch denkt, sondern von unten wächst, durch Verbände, Gruppierungen, Gemeinden, so wie es ihre in Deutschland lange geübte Praxis ist. Diese Struktur zu stärken - so verstehe ich ihn - ist ihm ein Anliegen!
DOMRADIO.DE: Im Moment sagen alle Umfragen, dass Friedrich Merz große Chancen hat, Kanzler zu werden. Zugleich muss man konstatieren, dass der Einfluss des Christentums in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten stark nachgelassen hat. Würden Sie eine Prognose wagen und sagen, dass, wenn Merz Kanzler wird, die beiden großen Kirchen eventuell wieder mehr Relevanz im Bereich der Politik bekommen könnten?
Resing: Wenn Sie mich nach meiner persönlichen Einschätzung fragen, glaube ich, dass eine Verengung des politischen Katholizismus - in welcher Weise auch immer - hinderlich ist. Pointiert gesagt, war das Zentralkomitee der deutschen Katholiken lange eine Vorfeldorganisation der Christdemokratie. Viele Politiker haben sich aus dem Umfeld des ZdK rekrutiert. Das ist heute zum Glück nicht mehr so!
Nun orientiert sich das ZdK sehr stark in Richtung einer anderen Partei. Auch das ist eine Verengung, die dem politischen Katholizismus nicht guttut. Diese abstrakte Formulierung "Einfluss der Kirche" kann heute nicht mehr so restauriert werden, wie es mal war. Das wird nicht wiederkommen, aber ich glaube, dass das Engagement von Christen in der Demokratie und auch vom ZdK oder anderen Gruppierungen sehr wichtig ist und dass sie sich um ihre Relevanz kümmern müssen. Und dass sie darum kämpfen müssen, dass sie nicht nur in der innerkirchlichen Funktionärsblase gehört werden, sondern eine Relevanz auf dem politischen Feld haben. Das gilt auch für Bischöfe.
Die fehlende Präsenz von Bischöfen und kirchlichen Funktionsträgern in Talkshows ist ein Gradmesser dafür, dass sie in der Öffentlichkeit keine Stimme haben, nichts zu sagen haben, keine Relevanz haben. Darum sollte sich die Kirche bemühen und darum sollte sie kämpfen. Und zwar unabhängig von Säkularisierung, Entkirchlichung und wie die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist.
Aber die Relevanz macht sich nicht an der Menge fest, sondern am Engagement. Es ist überhaupt nicht nötig, dass die Relevanz kirchlicher und christlicher Stimmen dieser Gesellschaft abnimmt, nur weil quantitativ die Gruppe kleiner wird.
DOMRADIO.DE: Friedrich Merz wäre 27 Jahren nach Helmut Kohl wieder ein katholischer Regierungschef. Es gab Zeiten, auch wenn das schon lange her ist, da wurde den katholischen Kandidaten in der Politik bisweilen unterstellt, sie würden vom Papst und dem Vatikan beeinflusst werden. Wie relevant oder irrelevant ist heutzutage bei einer Bundestagswahl die konfessionelle Prägung der Kandidaten?
Resing: Das ist wirklich eine interessante Frage. Ich bin seit 20 Jahren Journalist in Berlin und ich hätte mir nicht vorstellen können, dass die Relevanz in so kurzer Zeit gegen null geht. Als ich nach Berlin kam, war die Konfession von Angela Merkel noch ein Thema. Da war die Konfession des Bundespräsidenten ein Thema. Da war auch der Mix von Konfessionen in höchsten Staatsämtern ein Thema. Das ist heute - glaube ich - völlig weg.
Manchmal wissen die Leute gar nicht mehr voneinander, welcher Konfession sie angehören. Unter einem ökumenischen Gesichtspunkt ist das vielleicht sogar positiv. Interessant ist jedenfalls, dass es immer noch sehr viele engagierte Christen im Parlament gibt, vielleicht sogar überproportional viele Christen. Das zeigt, dass das Christentum am Gemeinwohl orientiert ist und sich ihm verpflichtet fühlt. Ihre Frage, ob das Konfessionelle im jetzigen Wahlkampf eine Rolle spielt, kann man generell eher verneinen. Es mag hier und da noch Aspekte geben, aber die Wahlentscheidung der Wählerinnen und Wähler hängt viel weniger vom Konfessionellen ab als früher, wobei sie auch nicht völlig unabhängig davon ist.
Ganz im Gegenteil zu dem, was manche amerikanische Politiker posten, kann man an alten Konfessionslinien aber noch Orientierung und eine gewisse Festigkeit sehen, beispielsweise ist in katholischen Gebieten die AfD relativ schlecht vertreten. Und das ist natürlich gut so!
DOMRADIO.DE: Sie sind schon lange im politischen Geschäft als Journalist tätig. Wagen Sie eine Prognose? Wer wird der nächste Bundeskanzler? Friedrich Merz?
Resing: Na ja, man braucht keine Erfahrung, um aktuell auf Friedrich Merz zu tippen. Aber mit Blick auf das Jahr 2021 oder das Jahr 2005 kann man sagen, dass - Vorsicht, Vorsicht - es auch noch Überraschungen geben kann! Dass Angela Merkel 2005 Bundeskanzlerin werden würde, war wenige Monate vor der Wahl sehr sicher, aber kurz vor der Wahl überhaupt nicht mehr. Am Ende ist sie es doch geworden. 2021 hatte Armin Laschet zunächst hervorragende Umfragewerte. Dann kam der Absturz und bekanntermaßen wurde er nicht Bundeskanzler. Alles ist möglich. Ich halte es aber für wahrscheinlich, dass Friedrich Merz Bundeskanzler wird.
Das Interview führte Mathias Peter.
Informationen zum Buch: Volker Resing: "Friedrich Merz. Sein Weg zur Macht", Verlag Herder, 1. Auflage 2025, 224 Seiten