Guter Vorsatz fürs neue Jahr: Wirtschaft ändern - aber wie?

Weniger Wachstum wagen

"Diese Wirtschaft tötet", lautet ein vielzitierter Ausspruch des Papstes. Im Laufe der Corona-Krise wurde der Ruf nach einer Umkehr laut. Aber: Welche Wirtschaft darf's denn dann sein? Eine Einladung zum Mitdenken.

Autor/in:
Joachim Heinz
Graffito von Papst Franziskus als Bettler / © Stefania Malapelle/Romano Siciliani (KNA)
Graffito von Papst Franziskus als Bettler / © Stefania Malapelle/Romano Siciliani ( KNA )

Manchmal liegt ein alter weißer Mann vielleicht doch nicht ganz daneben. Vor sechs Jahren veröffentlichte David Harvey sein Buch "Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus". Nötig seien "ein paar neue Gedanken" für das Wirtschaftsleben, schrieb der inzwischen 85-jährige US-amerikanische Sozialwissenschaftler. Manches von dem, was dann folgte, liest sich angesichts der Corona-Krise und ihrer Folgen erstaunlich aktuell.

So wünscht sich Harvey eine Welt, in der das Alltagsleben sich verlangsamt, "damit wir Zeit haben für frei gewählte Tätigkeiten in einer sicheren und schonend behandelten Umwelt, in der keine dramatischen Episoden schöpferischer Zerstörung zu befürchten sind".

Wirtschaft und Lebensweise auf dem Prüfstand

Bei allen Sorgen und allem Leid, das die Pandemie über die Welt gebracht hat: Vielleicht standen die Chancen selten so gut, Wirtschaft und Lebensweise vor allem der Industrienationen und Schwellenländer auf den Prüfstand zu stellen.

Ist der Kapitalismus, so wie wir ihn kennen, noch geeignet, die großen Herausforderungen der Menschheit zu lösen? Den Klimawandel?

Einen gerechten Zugang zu Rohstoffen und deren umweltschonende Nutzung? Den Kampf gegen Krankheiten, Hunger und Armut? "Diese Wirtschaft tötet", lautet ein vielzitierter Ausspruch von Papst Franziskus. Der durch Corona-Lockdowns erzwungene Stillstand des öffentlichen Lebens hat viele Zeitgenossen zum Nachdenken gebracht.

Über Landes- und Sprachgrenzen hinweg arbeiteten Wissenschaftler an der Entwicklung von Impfstoffen zusammen. Das Virus vereinzelte die Menschen - aber es ließ, so stand immer wieder zu lesen, die Gesellschaft näher zusammenrücken.

Dem stehen ernüchternde Einsichten gegenüber. Im Frühjahr applaudierte halb Deutschland jeden Abend den Beschäftigten im Gesundheitswesen. Eine schöne Geste. Aber mehr Geld haben Krankenschwestern, Altenpfleger oder die Mitarbeiter auf den Intensivstationen deswegen nicht bekommen.

Die EU einigte sich im Dezember auf einen milliardenschweren Haushalt samt Corona-Hilfen und diskutierte intensiv über einen Rechtsstaatsmechanismus, der die Vergabe von Mitteln an die Wahrung europäischer Werte knüpfen will. In den Ohren jener Flüchtlinge, die an den europäischen Außengrenzen unter unwürdigsten Bedingungen leben, muss das wie Hohn klingen.

Schließlich: Auch im Corona-Jahr lag der Stichtag, ab dem die knapp acht Milliarden Erdbewohner ökologisch betrachtet auf Pump leben, weit vor dem kalendarischen Jahreswechsel. Der sogenannte Erdüberlastungstag fiel diesmal auf den 22. August.

Nach Corona, das meint jedenfalls der Bonner Agrarwissenschaftler und Entwicklungsforscher Joachim von Braun, könne man nicht mehr zur Tagesordnung übergehen. "Eine verantwortungsbewusstere, mehr teilende, gleichberechtigte, fürsorglichere und gerechtere Gesellschaft ist erforderlich, wenn wir überleben wollen", meint von Braun der als Präsident einen ganz besonderen "think tank" leitet: die Päpstliche Akademie der Wissenschaften. 21 der derzeit 78 Mitglieder wurden mit einem Nobelpreis ausgezeichnet.

Stärker auf die Wissenschaft hören

Eine Lehre aus der Corona-Krise: Es lohnt sich, stärker auf die Wissenschaft zu hören. Zum Beispiel auf Shen Xiaomeng. Die aus China stammende Geographin leitet das Institut für Umwelt und menschliche Sicherheit der Universität der Vereinten Nationen (UNU-EHS). Sie plädiert für eine "neue Sprache, um das Bewusstsein der Menschen zu ändern".

Die Regierungen konzentrierten sich auf Wirtschaftswachstum und Kennziffern wie das Bruttoinlandsprodukt. Aber dieses Konzept trage nicht mehr, meint Shen. "Studien zeigen uns, dass das Wachstum zwar seit 1950 steigt, die Zufriedenheit der Menschen aber nur bis etwa 1975 mit diesem Wachstum Schritt hält. Seither gehen die beiden Kurven auseinander. Das sollte uns zu denken geben."

Was könnte an die Stelle des Wachstumsglaubens treten? "Weniger Konsum, mehr Umweltschutz, ein schonender Umgang mit Ressourcen, mehr Wertschätzung von öffentlichen Gütern wie Wald, Luft oder Wasser", antwortet Shen. Das Problem: Von sich aus werden viele Unternehmen, die ja nun zweifellos zu den zentralen Akteuren des Wirtschaftslebens gehören, kaum den Schalter umlegen und etwa den Ruf nach weniger Konsum unterstützen.

Neue Wege weisen könnte möglicherweise ein Denkanstoß von Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamtes (UBA). Er schlägt vor, Ressourcen- und Umweltverbrauch stärker zu besteuern und im Gegenzug die steuerliche Belastung von Arbeit zu reduzieren. "Denkbar wäre etwa, Baustoffe wie Beton höher zu besteuern, um die Nutzung von ressourceneffizienten Materialien voranzubringen."

Neben den Unternehmen gibt es dann noch die Verbraucher, also uns alle. "Allein in Deutschland landen jährlich 11 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll", sagt die Präsidentin der Welthungerhilfe, Marlehn Thieme. "Jeder kann bereits beim Einkaufen viel bewirken: regionale Produkte bevorzugen und nur das in den Einkaufswagen legen, was auch wirklich verbraucht wird."

Tugend des Maßhaltens

Die beiden Bischöfe Heiner Wilmer und Ralf Meister brachten in einem Interview für die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" kurz vor Weihnachten die Tugend des Maßhaltens ins Spiel. Das Konzept geht zurück bis auf den griechischen Philosophen Plato und findet sich unter anderem in der katholischen Soziallehre.

Klingt verstaubt? Dann nennen wir es eben Nachhaltigkeit. Warum leben wir weiter auf Kosten des Planeten und auf dem Rücken anderer Menschen? "Wir sägen seit Jahrzehnten an dem Ast, auf dem wir sitzen", mahnt Meister, evangelischer Landesbischof von Hannover.

"Bleiben wir in der Schiene, dass es Bedienstete gibt in den armen Ländern und diejenigen, die auf der Sonnenseite sich bedienen lassen?", fragt Wilmer, katholischer Bischof von Hildesheim.

Die Kirchen, so ließe sich einwenden, haben gerade vor der eigenen Haustüre genug zu kehren. Aber Luisa Neubauer von der weltweit aktiven Jugendbewegung Fridays for Future setzt beim Kampf gegen den Klimawandel unter anderem auf katholische und protestantische Führungskräfte: "Klare Worte von Bischöfen würden wir auf jeden Fall auch begrüßen."

Schüler und Studenten, Religionsvertreter, Wissenschaftler aus allen Kontinenten: Vielleicht erwächst, bewusst oder unbewusst, aus der Corona-Krise etwas, das David Harvey vor einigen Jahren schon vorschwebte. Um die Welt "aus den Fängen des Kapitalismus zu befreien", halte er den folgenden Schritt für notwendig: "Dass ein säkularer revolutionärer Humanismus formuliert wird, der sich mit den religiös orientierten Humanismen verbindet".

Ein Anfang ist jedenfalls gemacht. Der Papst forderte in seinem unlängst erschienenen Buch "Wage zu träumen" unter anderem ein universelles Grundeinkommen, um allen Menschen Zugang zu den "Früchten der Schöpfung" zu verschaffen. David Harvey, politisch auf dem linken Spektrum angesiedelt, würde so etwas vermutlich sofort unterschreiben.


Quelle:
KNA