"Erzählen Sie das den Menschen in Butscha. Da kriege ich Zornestränen in die Augen ..." Für einen Moment ringt Boris Pistorius am Samstagnachmittag im voll besetzten Osnabrücker Dom mit der Fassung. Gewaltfreier Widerstand in der Ukraine? "Ich kann nicht, sorry!" Das provozierende Stichwort kam vom langjährigen Generalvikar des Bistums Osnabrück, Theo Paul.
Der sogleich klarstellt: Er wolle den Ukrainern angesichts russischer Angriffe nicht zu gewaltfreiem Widerstand raten. Aber man solle zumindest zur Kenntnis nehmen, dass es so etwas in Ukraine vereinzelt auch gebe. "Warum sind wir heute bereit, einer anderen Logik - jener der Waffen - so gerne zu folgen?", fragt Paul bei der Diskussion über "die Politik, die Kirchen und der Krieg". "Es gibt auch andere Wege; sonst kommen wir aus dieser Sackgasse nicht wieder heraus", mahnt er.
Sind die Kirchen noch Partner der Politik?
Wie beim Kirchentag in Nürnberg äußern sich Kirchenvertreter, oftmals aktive Mitglieder der Friedensbewegung der 1980er-Jahre, heute vorsichtiger. "Was ich in der Ukraine erlebt habe, macht mich noch unsicherer bei Ratschlägen", gesteht Hannovers evangelischer Landesbischof Ralf Meister. Im Moment könne er Ukrainern gegenüber noch nicht über Versöhnung sprechen. Vorerst müsse man den Menschen dort "im notwendigsten Maße zur Selbstverteidigung" helfen.
Im Dom waren Pistorius und Altbundespräsident Christian Wulff auch gefragt worden, ob sie die austrittsgeschwächten Kirchen noch als Partner für die Politik und Stütze der Gesellschaft erlebten. Ja, lautet die klare Antwort. Ohne die großartige Arbeit kirchlicher Institutionen und das Engagement zahlreicher Christen könnten viele Herausforderungen nicht gestemmt werden.
Den Einwand, oft beschäftigten die Kirchen sich zu viel mit sich selbst, relativierte Theo Paul. Es gebe eben auch Probleme, die dringend angegangen werden müssten. Das war auch auf den Missbrauchsskandal gemünzt, dem der Kirchentag drei gute besuchte Veranstaltungen widmete.
Debatte um Missbrauchsaufarbeitung
Am Vormittag berichtet in der "Lagerhalle", einem Kulturzentrum, Karl Haucke, Betroffener sexuellen Missbrauchs, vor gut 70 Zuhörern über seine Leidensgeschichte als elfjähriger Schüler in einem katholischen Internat. Neben Kritik an schleppender Aufarbeitung und mangelndem Reformwillen der katholischen Kirche geht es in einer Podiumsdiskussion auch um die evangelische Kirche.
Deren systemische Ursachen für sexualisierte Gewalt, so Landesbischof Meister, seien andere. Anders als in der katholischen Kirche mit Zölibat und zentralisierter Macht sei die evangelische stolz auf ihre Freiheit. "Vor rund 40 Jahren", so Meister, "bestand bei uns Freiheit auch darin, zu tun, was nicht erlaubt war." Diese "groß herausgekehrte" Freiheit habe eine Übergriffskultur begünstigt, die derzeit aufgearbeitet werden müsse.
Nachmittags sprachen katholische, lutherische und reformierte Experten über den Umgang ihrer Kirchen mit dem Thema. Bereits am Freitagabend, parallel zu einer Nacht der offenen Kirchen, hatten Mitglieder der Gruppe zentral vor der Rathaustreppe eine Mauer symbolischer Steine errichtet, die das Leben Betroffener belasten und verbauen.
Klimaschutz, der allen nutzt
In der evangelischen Marienkirche nebenan berichteten ein junger Syrer und ein Afghane von ihrer Flucht nach Deutschland. Unter anderem trugen sie ihre Erfahrungen in Gedichten in arabischer und persischer Sprache vor, die anschließend übersetzt wurden.
Über sozialverträgliches ökologisches Wohnen als "Klimaschutz, der allen nutzt" unterhält sich am Samstagnachmittag Osnabrücks Oberbürgermeisterin Katharina Pötter (CDU) mit Vertretern der Caritas und der katholischen Wohnungsbaugesellschaft Stephanswerk. Angesichts der Debatten um das von der Bundesregierung geplante Heizungsgesetz ein brisantes Thema, das entsprechend große Resonanz findet.
Für den Abend sind in vier Kirchen Gottesdienste geplant, bei denen auch Christen jeweils anderer Konfessionen zur katholischen Eucharistie oder dem evangelischen Abendmahl eingeladen sind. Der Kirchentag endet am Sonntagvormittag mit einem ökumenischen Gottesdienst auf dem Marktplatz. Von der dortigen Rathaustreppe aus
war am 25. Oktober 1648 der Westfälische Frieden verkündet worden.