"Du musst auch mal an dich denken!" Ein gut gemeinter Ratschlag. Doch so einfach ist das nicht. Wenn ein Elternteil oder der Lebenspartner pflegebedürftig wird, steht manchmal das Leben einer ganzen Familie auf dem Kopf.
Familienmitglieder sind in Deutschland die Hauptstütze in der Pflege. Ohne ihr Engagement bräche der Sozialstaat zusammen. Von den gut 3,4 Millionen Menschen, die Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, werden 76 Prozent oder 2,59 Millionen zu Hause versorgt, davon 1,76 Millionen allein durch Angehörige.
Hohe psychische Belastung
Derzeit geht das Bundesfamilienministerium von etwa 4,8 Millionen pflegenden Angehörigen aus. Von ihnen sind rund 2,5 Millionen erwerbstätig und damit doppelt gefordert. Mehr als 70 Prozent der Hauptpflegepersonen sind Frauen.
Für viele Pflegende sind die Belastungen hoch: Etwa ein Viertel der Pflegehaushalte fühle sich zeitlich und psychisch sehr stark belastet, heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten Forsa-Umfrage für das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO).
8,6 Stunden pro Tag für die Pflege Angehöriger
43 Prozent bekundeten eine mittlere Belastung, nur bei knapp 31 Prozent der Pflegenden ist sie niedrig. Gefragt wurde im Dezember und Januar - also noch vor der Corona-Krise. Seitdem deuten Einzelstudien auf eine Zuspitzung der Situation hin.
Im Durchschnitt widmen die befragten Haushalte den Pflegebedürftigen laut AOK-Studie 8,6 Stunden pro Tag. Mehr als sechs Stunden übernehmen dabei die Hauptpflegepersonen. Etwa 1,5 Stunden werden von anderen - nicht bezahlten - Personen und nur knapp eine Dreiviertelstunde (0,7 Stunden) von Pflegediensten oder über andere Leistungen der Pflegeversicherung erbracht.
Gesundheitliche Folgen
Dabei ist die zeitliche Belastung sehr ungleich verteilt. So wendet die Hälfte der Angehörigen vier Stunden und weniger pro Tag dafür auf, während ein Viertel der Haushalte mehr als sieben Stunden pro Tag leistet. Haushalte, in denen Menschen mit den Pflegegraden 3 bis 5 oder mit einer Demenz versorgt werden, sind besonders stark gefordert: Hier leistet ein Viertel rund zehn Stunden Pflegearbeit pro Tag. Jeder zehnte Haushalt gibt sogar Pflegezeiten von 20 Stunden und mehr pro Tag an.
Das hat oft auch gesundheitliche Belastungen zur Folge. "Häusliche Pflege macht krank" - so bilanzierte der Bremer Pflegeforscher Heinz Rothgang den 2018 veröffentlichten Pflegereport der Krankenkasse Barmer. So litten 54,9 Prozent der pflegenden Angehörigen unter Rückenbeschwerden und 48,7 Prozent unter psychischen Störungen. Fast jeder 14. pflegende Angehörige stehe kurz davor, die Pflege aufzugeben.
Möglichkeiten zur Entlastung der Pflegenden
"Grundsätzlich gilt: Nur wer gut für sich selbst sorgt, hat langfristig die Kraft, auch für andere gut zu sorgen", rät Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP).
Das ist auch dem Gesetzgeber bewusst. In drei Pflegereformen hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren ein umfangreiches Paket geschnürt, damit Pflegebedürftige weiter in den eigenen vier Wänden bleiben und pflegende Angehörige Unterstützung erhalten können. Tages-, Kurzzeit- und Verhinderungspflege sollen Pflegende entlasten und Urlaub ermöglichen.
Viele scheuen sich vor Anträgen auf Gelder
Angehörige werden in der Renten- und Arbeitslosenversicherung besser abgesichert. Seit 2016 hat jeder pflegende Angehörige auch einen Anspruch auf eine individuelle Fallbegleitung und Beratung durch seine Pflegekasse.
Doch glaubt man einer im Februar 2018 veröffentlichten Studie des ZQP, lassen sich pflegende Angehörige weiterhin Hilfen und Millionenbeträge entgehen, weil sie von Entlastungsmöglichkeiten nichts wissen oder sich scheuen, sie zu beantragen. Zwar gibt es viele verschiedene Beratungsformen und -organisationen in Deutschland, allerdings ist diese Angebotsvielfalt schwer zu überschauen.
Ausbau von Entlastungsangeboten gefordert
Bemängelt wird auch, dass die nötigen Angebote - etwa Tagespflegeeinrichtungen - nicht überall in ausreichendem Umfang vorhanden sind - und in der Corona-Krise teilweise geschlossen wurden.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte nun einen Ausbau solcher Entlastungsangebote für Angehörige. Vorstand Eugen Brysch verlangte einen Rechtsanspruch auf kostenlose Kurzzeit- und Verhinderungspflege für sechs Wochen im Jahr.