Weshalb bombardiert Russland Kirchen in der Ukraine?

"Klarer Bruch des Völkerrechts"

Im Ukrainekrieg sind bis jetzt über 500 Gotteshäuser und religiöse Einrichtungen zerstört oder beschädigt worden. Erst am Wochenende die orthodoxe Kathedrale von Odessa. Warum sind Kirchen nicht neutral und geschützt wie Krankenhäuser?

Autor/in:
Renardo Schlegelmilch
Ukraine, Kupjansk: Nach einem Angriff, mutmaßlich von russischer Seite, ist ein Feuer ausgebrochen, das auch die ukrainisch-orthodoxe St.-Nikolaus-Kirche bedroht.  / © Ashley Chan (dpa)
Ukraine, Kupjansk: Nach einem Angriff, mutmaßlich von russischer Seite, ist ein Feuer ausgebrochen, das auch die ukrainisch-orthodoxe St.-Nikolaus-Kirche bedroht. / © Ashley Chan ( dpa )

Die Verklärungskirche in Odessa hat schon einiges durchgemacht in ihren gut 200 Jahren. Katharina die Große hat ihren Bau 1795 in Auftrag gegeben. Mit ihren 9.000 Sitzplätzen (ungefähr drei Mal so groß wie der Kölner Dom) gehört sie zu den größten orthodoxen Kirchen des Landes. Als die Kommunisten 1919 die Macht übernahmen, wurde der imposante Kirchenbau erst geplündert und geriet danach in Vergessenheit. 1936 ordnete Stalin ihre Zerstörung an. Erst ab 1999 wurde sie detailgetreu wieder aufgebaut und konnte 2010 neu geweiht werden – vom damaligen und jetzigen Moskauer Patriarchen Kyrill I.

Kirchenmitarbeiter inspizieren die Schäden in der Verklärungskathedrale in Odessa nach russischen Raketenangriffen / © Jae C. Hong/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ (dpa)
Kirchenmitarbeiter inspizieren die Schäden in der Verklärungskathedrale in Odessa nach russischen Raketenangriffen / © Jae C. Hong/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ ( dpa )

In der Nacht auf Sonntag dann das nächste traurige Kapitel in der Geschichte der orthodoxen Kathedrale von Odessa. Bei russischen Raketenangriffen wurde das Kirchenschiff teilweise zerstört. Ein Mensch starb, 22 wurden verletzt. Russland sagt, man habe die Kirche nicht angegriffen, es seien ukrainische Abwehrraketen gewesen, die das Gebäude zum Teil in Schutt und Asche gelegt haben. Am Ergebnis ändert das allerdings relativ wenig.

Warum werden Kirchen bombardiert?

Aber wie kann es überhaupt dazu kommen, dass eine Kathedrale zum Angriffsziel im Krieg wird? Sollten Kirchen nicht von Kampfhandlungen verschont bleiben? Im Ukrainekrieg sind solche Angriffe kein Einzelfall. Experten sprechen von hunderten Kirchen, Moscheen, Synagogen und anderen religiösen Einrichtungen, die im Krieg zum Teil oder komplett zerstört wurden – und damit auch von möglichen Kriegsverbrechen. Diesen Vorwurf erhob auch der ukrainische Präsident Selenskyj am Morgen nach dem Angriff.

Das in der Ukraine ansässige Institut für Religionsfreiheit (IRF) sprach bereits Anfang des Jahres von 494 Sakralbauten, die zerstört, beschädigt oder geplündert wurden. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl also inzwischen weit über 500 liegt. Die meisten Gebäude wurden nach Angaben in den von Russland besetzten Gebieten im Osten des Landes angegriffen, aber auch die Region Kiew sei in großem Maße betroffen. Im ganzen Land gebe es Übergriffe auf sakrale Gebäude. Der Großteil sei christlichen Kirchen zuzuordnen, nur fünf seien jeweils Moscheen oder Synagogen gewesen.

Weshalb sind Kirchen nicht geschützt?

Schaut man in die Liste der Kriegsverbrechen der Vereinten Nationen und in die Texte, die zum "Humanitären Völkerrecht" zählen, findet man nirgends den Satz, dass Gotteshäuser von Kriegshandlungen verschont werden sollen. Allerdings gibt es verschiedene Regelungen, die Kirchen, Synagogen oder Moscheen mit einschließen. "Das ´Humanitäre Völkerrecht´ lässt nur direkte Angriffe gegen militärische Ziele zu. Dazu zählen definitiv keine Gotteshäuser," sagt dazu Bernhard Koch vom Institut für Theologie und Frieden in Hamburg gegenüber DOMRADIO.DE.

Bernhard Koch

"Das 'Humanitäre Völkerrecht' lässt nur direkte Angriffe gegen militärische Ziele zu. Dazu zählen definitiv keine Gotteshäuser,"

Wenn es um den Schutz von Kirchen geht, kommen vor allem zwei Argumente zum Tragen: Kirchen sind zivile Einrichtungen und sie zählen zu den Kulturgütern. Deshalb war es auch die UNESCO, die den Angriff auf die Verklärungskirche in Odessa mit als erstes verurteilt hat. Das bestätigt Ralph Rotte, Professor für Internationale Beziehungen an der RWTH Aachen, gegenüber DOMRADIO.DE: "Gemäß der Regeln des 'ius in bello' sind Kulturgüter, und dazu gehören auch Kirchen, grundsätzlich für Kriegshandlungen tabu. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn sie vom Gegner militärisch genutzt werden. Nachdem das aber wohl hier nicht der Fall war, war es ziemlich eindeutig ein völkerrechtswidriger Angriff."

Was ist das "Humanitäre Völkerrecht"?

Zum "Humanitären Völkerrecht" zählt unter anderem die Genfer Konvention. Diese Rechtsstruktur ist im 19. Jahrhundert entstanden, um unbeteiligte Zivilisten und Kriegsverletzte zu schützen. Anlass dafür war die Schlacht von Solferino im Sardinischen Krieg, die mit 6.000 Toten und 30.000 Verletzten als blutigste Schlacht der Geschichte gilt.

Kirchen werden allerdings im "Humanitären Völkerrecht" nicht explizit als zu verschonend erwähnt. Wogegen zum Beispiel Einrichtungen des Roten Kreuzes auch im Krieg vor Angriffen geschützt sind. Friedensethiker Koch: "Kirchen werden nicht gleichgestellt behandelt wie medizinische Einrichtungen, die durch das Schutzzeichen (Rotes Kreuz, Roter Halbmond) kenntlich gemacht sind. Hier haben die Initiatoren des Humanitären Völkerrechts einen Unterschied gemacht. Das ganze Rechtsgebiet nimmt seinen Ursprung in der Versorgung Verwundeter."

Warum werden Kirchen angegriffen?

Das Religionsfreiheitsinstitut IRF aus Kiew vermutet dahinter eine Taktik, die sich weniger gegen die religiöse Zugehörigkeit richtet als gegen die nationale. Deshalb würden auch immer wieder Geistliche und religiöse Persönlichkeiten ins Visier genommen, da diese für die ukrainisch-nationale Identität stünden, "wegen der ukrainischen Sprache, wegen der Zugehörigkeit zu einer anderen Konfession oder wegen anderer deutlicher Zeichen ukrainischer Identität," so IRF.

Bernhard Koch

"(Es wird) vermutet, dass es den Angreifern um ein 'Auslöschen' von ukrainischer Kultur geht (...), das schon in Richtung Genozid einzustufen wäre."

Eindeutig nachgewiesen werden kann dieser Beweggrund allerdings nicht. Das wäre für den Friedensethiker Bernhard Koch aber auch noch ein ganz anderes Problem: "Freilich wird zum Teil vermutet, dass es den Angreifern um ein 'Auslöschen' von ukrainischer Kultur geht und man dem evtl. auch auf diese Weise nachkommen will, aber damit würde ein weiteres Verbrechen hinzugefügt, das schon in Richtung Genozid einzustufen wäre."

Kirchen als Agenten des Staates?

Das amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek hat die Lage der Kirchen in der Ukraine analysiert und vermutet hinter den Angriffen auf Kirchen auch eine klare Taktik zur Schwächung der ukrainischen Infrastruktur. "In der Ukraine werden die Kirchen zum sozialen Sicherheitsnetz und erfüllen die Aufgaben, zu denen der Staat nicht mehr in der Lage ist. Die russische Armee betrachtet Priester und Pastoren deshalb als Agenten des ukrainischen Staatssystems." Kirchen werden zu Bunkern, Essensausgabestellen und Flüchtlingsunterkünften. Angriffe auf solche Stellen würden dann eher einer militärischen als einer religiösen Taktik folgen.

Newsweek sieht in Angriffen auf Kirchen nicht nur einen Bruch des Völkerrechts, sondern auch der Religionsfreiheit: "Eine Kirche zu bombardieren zerstört nicht nur das Gebäude an sich, sondern verletzt auch das Recht der Gläubigen, ihre Religion in Frieden auszuüben. Wenn Bauwerke, die als heilig gelten und vom internationalen Recht geschützt sind, systematisch bombardiert werden, bleibt Kriegsflüchtlingen praktisch kein Ort mehr, wo sie sichere Zuflucht suchen können:"

Sind Angriffe auf Kirchen ein Kriegsverbrechen?

Die Frage lässt sich relativ leicht beantworten, sagt Prof. Ralph Rotte: “Die Anwendbarkeit des Terminus 'Kriegsverbrechen' wird teilweise an die Schwere der Tat gebunden; allgemein würde man den Begriff aber auf alle ahndungswürdigen Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht anwenden, also auch hier.“

Der Friedensethiker Bernhard Koch sieht das ähnlich: "Man kann nur mit großem Entsetzen und Betroffenheit sehen, wie offenkundig immer mehr Hemmungen fallen. Es ist auch bedrückend, dass augenscheinlich basale Normen des Humanitären Völkerrechts in der russischen Armeeführung nicht verinnerlicht worden sind. Wie vieles im Völkerrecht sind allerdings auch diese Bestimmungen oft ein nicht besonders scharfes Schwert, falls sie nicht befolgt werden. Es ist zu hoffen, dass eine internationale Strafgerichtsbarkeit die Geschehnisse eines Tages aufarbeiten kann. Besonders wahrscheinlich scheint es mir allerdings nicht."

Die Geschichte der Stadt Odessa

Die Millionenstadt Odessa mit ihrem Güterhafen gilt als Tor der Ukraine zum Schwarzen Meer. Allerdings wurde sie in der Geschichte auch immer wieder als Einfallstor zur Ukraine benutzt. Seit dem 10. Jahrhundert gehört die Region zur sogenannten Kiewer Rus. Wohl im 13. Jahrhundert gründeten hier ostslawische Siedler einen ersten Hafen, der in den folgenden Jahrhunderten immer wieder neue Herren erlebte: Tataren, Polen und Litauer, für die längste Zeit die Osmanen, die hier 1526 eine Festung anlegten, und 1789 russische Kosaken. 1794 wurde unter Zarin Katharina II.

Odessa aus der Vogelperspektive / © Hrecheniuk Oleksii (shutterstock)
Odessa aus der Vogelperspektive / © Hrecheniuk Oleksii ( shutterstock )
Quelle:
DR