Man muss schon sehr genau hinschauen, um die Figuren und die Boshaftigkeit ihrer Darstellung zu erkennen: Matthias Deml, Kunsthistoriker und Sprecher der Kölner Dombauhütte führt die kleine Besuchergruppe zum mittelalterlichen Chorgestühl im Kölner Dom und deutet auf die kleinen Holzschnitzereien: Ein Jude mit spitzer Mütze hält ein Schwein im Arm, an dessen Zitzen ein davor kniender weiterer Jude saugt.
Eins von zahlreichen mittelalterlichen antijüdischen Artefakten im und am Kölner Dom. "Dass es so viele sind, hätte ich nicht gedacht", sagt Christoph Knecht und staunt: "Eine Überraschung im negativen Sinne."
Knecht ist Teil der 15köpfigen internationalen Künstlergruppe, die an diesem Vormittag durch den Dom geführt wird. Sie wurden vom Kölner Domkapitel eingeladen, sich an einem Wettbewerb zu beteiligen, an dessen Ende ein neues Kunstwerk für den Dom stehen soll, das sich mit dem christlich-jüdischen Verhältnis von heute auseinandersetzt.
Schmähdarstellungen überall in Deutschland
Es gehe um ein neues Miteinander von Juden und Christen, erklärt Weihbischof Rolf Steinhäuser, Mitglied des Domkapitels und als Bischofsvikar zuständig für den interreligiösen Dialog. "Durch das zweite Vatikanische Konzil und die verabschiedete Erklärung "Nostra Aetate" 1965 hat sich das grundlegend geändert", sagt er. Er hofft, dass sich dieser Paradigmenwechsel auch in dem neuen Kunstwerk für den Dom widerspiegelt.
Denn vorher war dieses Verhältnis Jahrhundertelang von Hass und Hetze gegen Juden bestimmt gewesen, davon zeugen bis heute zahlreiche antijüdische Schmähdarstellungen in Kirchen und Profanbauten im deutschsprachigen Raum. Prominentestes Beispiel ist die so genannte "Judensau" an der Wittenberger Stadtkirche.
Aber auch am Kölner Dom wurde bislang ein gutes Dutzend solcher Artefakte aufgefunden: Matthias Deml deutet auf Bilder von Männern mit Bärten, überzeichneten Nasen und Geldsäcken. Mehr als 800 Jahre alte Stereotype, Zeugnisse eines über Jahrhunderte tradierten Judenhasses durch die Kirche. Und selbst am Herzstück des Kölner Domes, dem Dreikönigenschrein, finden sich hämisch grinsende Figuren mit dem typischen "Judenhut":
Er kennzeichnet bei der Darstellung "Christi an der Geißelsäule" die Henkersknechte als Juden. "Damit wird der alte Vorwurf des Christusmordes erhoben" erklärt Deml, "was natürlich nicht den historischen Tatsachen entspricht."
Ausdruck der Zeit
Auch der Künstler Ariel Schlesinger ist überrascht: Er verstehe nun deutlich besser, wie Juden von Christen jahrhundertelang gesehen wurden, erklärt der 44-Jährige. Schlesinger ist in Jerusalem geboren und hat bereits im Jahr 2019 eine Skulptur für das jüdische Museum in Frankfurt geschaffen. Emotional berührten ihn diese antijüdischen Darstellungen jedoch nicht, sagt er, obwohl er selbst Jude ist: "Ich schaue da eher sachlich drauf, wie in ein Geschichtsbuch."
Seit 2016 beschäftigt sich eine von der Kölnischen Gesellschaft für Christlich Jüdische Zusammenarbeit initiierte Arbeitsgruppe mit dem antijüdischen Erbe in und an der Kathedrale. Mittlerweile gibt es zu dem Thema Infomaterial, eine Ausstellung und eigens dafür konzipierte Touren. Jetzt soll ein neues Kunstwerk im Dom diese Maßnahmen ergänzen, erklärt Dombaumeister Peter Füssenich: "Der Kölner Dom ist ein Haus, das nie fertig wird. Denn wenn er fertig würde, besagt die Legende, ginge die Welt unter", sagt er und lacht. Aber auch künstlerisch werde er nie fertig: "Jede Generation darf und muss ihm etwas hinzufügen. Ausdrücke der Zeit, der Generationen und der Ansichten des Glaubens sind im Kölner Dom verwirklicht und deshalb ist er auch ein Geschichtsspeicher. Das soll er auch bleiben und deswegen freuen wir uns auf ein dauerhaftes neues Kunstwerk für den Kölner Dom, das sich mit dem Verhältnis zwischen Christen und Juden befasst, wie wir es heute kennen."
Keine Vorgaben
Bis August können die Kunstschaffenden ihre Entwürfe einreichen. Dabei sind sie frei in der Gestaltung: Ob es nun ein Bild, eine Skulptur oder eine Installation wird, es gebe keinerlei Vorgaben, versichert Füssenich. Als Ort empfehle sich das Nordquerhaus, weil dort Platz sei und sich einige der antijüdischen Artefakte dort befänden. Aber das sei ausdrücklich nur eine Empfehlung.
Aber natürlich gibt es räumliche und liturgische Grenzen, bei einem Weltkulturerbe haben viele mitzureden: "Wenn jemand auf die Idee käme, den Dreikönigsschrein einzuschmelzen, dann hätten wir sicher ein Problem damit", sagt Füssenich. Und er verweist auf den denkmalpflegerischen Vorbehalt: "Alle Eingriffe im Kölner Dom bedürfen der denkmalrechtlichen Erlaubnis, am Ende ist alles mit dem Stadtkonservator abzusprechen."
Wie sieht das neue Kunstwerk für den Dom aus?
Wie dieses neue Kunstwerk aussehen könnte, davon möchte sich Füssenich bewusst noch keine Vorstellung machen. Und auch Weihbischof Steinhäuser will sich nicht festlegen: Es sei ein bisschen wie die Vorstellung von Gott, sagt er: "Jeder hat ein anderes Bild davon, aber manchmal muss man bei näherer Betrachtung sagen: So ist er nicht."
Die 15 Künstlerinnen und Künstlern haben bei der Domführung erste Ideen gesammelt. Der Düsseldorfer Christoph Knecht arbeitet normalerweise mit Malereien, Radierungen, Skulpturen oder Keramiken. Was es für den Dom werden könnte, möchte er noch nicht sagen: "Natürlich fängt man an zu denken und der Kopf fängt an zu rattern", erklärt er. Er habe bereits Ideen, aber die müssten noch weiterentwickelt werden.
Kein Schlussstrich
Ab August wird eine Jury vier Finalisten aus den eingereichten Entwürfen auswählen. In ihr sitzt unter anderem Abraham Lehrer, stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden und im Vorstand der Synagogen-Gemeinde Köln. Es gehe bei dem Kunstwerk nicht darum, einen Schlussstrich unter die christlich-jüdische Vergangenheit und die antijüdischen Artefakte im Dom zu ziehen, betont er: "Man braucht den Rückblick und das Wissen um das, was da geschehen ist - die guten wie die schlechten Zeiten – so kann man den Blick nach vorne richten." So mancher in seiner Gemeinde sähe die antijüdischen Schmähplastiken lieber abmontiert, aber die Idee mit dem Kunstwerk, sagt er, tragen alle mit.
2025 soll der Siegerentwurf feststehen. Es wäre ein Novum: Die erste christliche Kirche, die sich auf diese Weise künstlerisch mit ihrem antijüdischen Erbe auseinandersetzt.