Anzug, bunte Krawatte, Sneakers: Für Albaniens Ministerpräsidenten Edi Rama ist das kein ungewöhnliches Outfit - selbst vergangene Woche nicht, als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Staats- und Regierungschefs vom Westbalkan zum Arbeitsessen nach Brüssel einlud. Rama, Hobby-Maler und ehemaliger Profi-Basketballer, liebt es unkonventionell. Doch sein neuestes Projekt könnte all seine bisherige Exzentrik in den Schatten stellen: Er will einen muslimischen Mini-Staat in der Hauptstadt Tirana errichten.
Der geplante Zwergstaat nehme sich den Vatikan zum Vorbild. Das gaben Rama und der Führer des Bektaschi-Ordens, Baba Mondi, nun bekannt. Die Bektaschi sind auf dem Balkan einer der einflussreichsten Orden von Sufis, die einen spirituellen und eher toleranten Islam vertreten. Entsprechend will der neue Staat etwa auf ein Alkoholverbot oder das Kopftuchgebot für Frauen verzichten. "Wir sollten diesen Schatz der religiösen Toleranz bewahren und ihn niemals als selbstverständlich betrachten", so Rama. Der "Souveräne Staat des Bektaschi-Ordens" soll eine "souveräne Enklave" in Tirana bilden. Über die Fläche herrschen unterschiedliche Angaben, zwischen 14 und 38 Fußballfelder könnte das Territorium umfassen.
Vorhaben eher "gewitzte Kommunikationsstrategie"
"Die albanischen Bektaschi sind natürlich hocherfreut", so Christiane Jaenicke, Autorin und Albanien-Expertin. "Baba Mondi betonte in ersten Interviews, die Initiative würde "eine neue Ära weltweiter religiöser Toleranz und der Förderung des Friedens einläuten", sagt die Kennerin.
Doch Beobachter sind skeptisch; etwa der Politologe Ardian Hackaj in Tirana. Er erkennt eine "gewitzte Kommunikationsstrategie" in einer Welt von Krieg und Konflikt. "Hier wird Albaniens Image als religiös tolerantes Land gestärkt", so Hackaj. Tatsächlich hält er einen "Bektaschi-Vatikan" in naher Zukunft für unwahrscheinlich - "vor allem, wenn wir die institutionelle Führung, die Protokolle, die internationale Anerkennung und den diplomatischen Einfluss des Vatikans oder seine Finanzkraft berücksichtigen".
"Für Alleingänge bekannt"
Albanien und Religion - das ist ein eigenes Thema. 1967 erklärte der damalige Diktator Enver Hodscha sein Land zum ersten atheistischen Staat der Welt. Priester wurden erschossen. Wer Weihnachten feierte, landete im Internierungslager. Soll der neue Gottesstaat eine Wiedergutmachung sein? Dazu meint Politologe Hackaj: "Es wäre der erste bekannte Fall, bei dem Balkan-Politiker Wiedergutmachung leisten."
Viel eher erscheint der albanische Vatikan wie eines der bunten Abstrakt-Gemälde, die Hobby-Künstler Rama an seine Bürowände gepinselt hat. "Rama ist für seine Alleingänge bekannt", meint Landesexpertin Jaenicke. Davon zeuge auch der umstrittene Migranten-Deal, bei dem Albanien ab nächsten Monat aufgegriffene Bootsmigranten von Italien aufnehmen will. Opposition und vielen Albanern stoßen Ramas Alleingänge sauer auf.
Ministerpräsident Rama ist umstritten
"Die Leute haben genug von dieser Regierung", verkündete im Februar der Oppositionspolitiker Edi Paloka. Seine Albanische Demokratische Partei unterstellt Rama, eine "Diktatur" aufzubauen. Deutliches Anzeichen sei der Hausarrest, den ein Gericht wegen Korruptionsvorwürfen gegen Ex-Regierungschef Sali Berisha verhängte. Dieses Jahr kam es zu Massenprotesten gegen Rama. Daneben wird der Streit auch im Parlament ausgetragen.
Politologe Hackaj kann der Idee eines albanischen Vatikans durchaus etwas abgewinnen - etwa, wenn das "Forum für religiöse Toleranz" zur Konfliktlösung in der Region und der Welt beitrage. Dazu Autorin Jaenicke: "Die Bektaschi sind in Albanien in der Tat für ihre religiöse Toleranz bekannt und haben einen sehr guten Ruf und eine lange Geschichte."
Der Leuchtturm der Toleranz könnte scheitern. Unter Albanern stieß das Vorhaben laut Jaenicke auf "Erstaunen, Skepsis und Ablehnung". Opposition und christliche Vertreter wittern einen Verstoß gegen Albaniens Verfassung. Und auch die muslimische Führung lehnt Medienberichten zufolge einen Staat für die Bektaschi-Minderheit ab, die gut zwei Prozent der Bevölkerung umfasst. Zu einer Zeit, zu der es im Land keinen Religionskonflikt gebe und bereits Dialog herrsche, könnte der neue Gottesstaat einen "gefährlicher Präzedenzfall" bilden.