Wie die Kirche aus der Bekenntniskrise kommen kann

Sehenden Auges in den Relevanzverlust?

Soziologen zufolge sind nur noch unter 50 Prozent der Deutschen Kirchenmitglieder. Der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann sieht die Verantwortung dafür nicht nur bei der Kirche – und gibt Tipps, um aus der Krise zu kommen.

Leere Kirchenbänke / © SV Digital Press (shutterstock)
Leere Kirchenbänke / © SV Digital Press ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Weniger als 50% unserer Gesellschaft gehören laut dem Religionssoziologen Detlef Pollack zur katholischen und evangelischen Kirche. Haben wir wirklich einen Kipppunkt erreicht, was die Zugehörigkeit zur Kirche angeht?

Dr. Andreas Püttmann (privat)
Dr. Andreas Püttmann / ( privat )

Dr. Andreas Püttmann (Politikwissenschaftler und Publizist): Ja. Ich würde es nur nicht an den arithmetischen Mehrheitsverhältnissen festmachen, sondern mehr sozialpsychologisch erklären, nach Elisabeth Noelle-Neumanns Theorie der Schweigespirale. Die sagt, dass Menschen als soziale Wesen sehr fein wahrnehmen, welche öffentlich kommunizierten Meinungen in der Gesellschaft zunehmen und abnehmen. Das ist nicht unbedingt identisch mit einer statistisch ermittelten Meinung oder Zugehörigkeit.

Das Problem hängt bei den Christen also mit dem Bekenntnismangel zusammen. Man kann schon seit Jahrzehnten sehen, dass die Bereitschaft, sich mit seinem Glauben zu exponieren, zurückgeht und dass wir auch ziemlich uneinige, ja regelrecht zerrissene Kirchen haben bei vielen Themen, was auch weniger attraktiv macht. Dann kam noch die Verschärfung durch Skandale dazu, insbesondere auf der katholischen Seite, wo man dann immer auch eine Stichflamme der Kirchenaustritte sah.

Also war schon länger absehbar, dass die Gläubigen in eine Defensive geraten und mehr in Schweigen verfallen. Ich habe schon vor 15 Jahren gesagt, dass dieser Trend nochmal krisenverschärfend wirken könnte, indem er sich selbst verstärkt. Als weiterer Faktor kam dann gleichsam die Betriebsunterbrechung durch die Pandemie hinzu, deren Risiken ja auch noch nicht vorbei sind. Es halten sich immer noch Menschen von Gottesdiensten fern, weil sie wissen, auch als Geimpfte können sie erkranken und auch als leicht Erkrankte können sie Longcovid bekommen. Deswegen ist dieser Faktor immer noch virulent. Und wenn die Gewohnheit der regelmäßigen Gottesdienstteilnahme erst einmal unterbrochen ist, kehrt nicht jeder zu ihr zurück.

Andreas Püttmann

"Man kann schon seit Jahrzehnten sehen, dass die Bereitschaft, sich mit seinem Glauben zu exponieren, zurückgeht."

DOMRADIO.DE: Sind die Kirchen da sehenden Auges in die Krise geraten – ähnlich wie unsere Gesellschaft beim Klimawandel?

Püttmann: Ja, einerseits schon absehbar durch dieses defensive Christentum, das man auch an Umfragen ablesen konnte, andererseits daran, dass man in der säkularen Öffentlichkeit auch ohne Skandale mit manchen Positionen wie zum Lebensschutz Anstoß erregte und die eine Kirchenpartei versuchte, Ecken und Kanten abzuschleifen und die andere sich trotzig einbunkerte und jegliche Modernisierung verweigerte.

Jedes vierte Kirchenmitglied in Deutschland denkt über Austritt nach

Der Trend sinkender Mitgliedszahlen in den christlichen Kirchen in Deutschland hält an. Das zeigen erste Daten aus dem neuen Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann-Stiftung. Zugleich sind sich viele Menschen einig: Man kann auch ohne Kirche Christ sein. Das könnte die Bedeutung der Kirchen in der Gesellschaft auf Dauer verändern.

Symbolbild Kirchenaustritt / © Julia Steinbrecht (KNA)
Symbolbild Kirchenaustritt / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Schönredner behaupteten, es gebe gar keine Entchristlichung, nur eine Entkirchlichung. Allerdings sind ja beide recht unterschiedliche Konfessionen betroffen, und innerkirchlich Konservative und Liberale. Es gab einen kontinuierlichen Prozess, von dem der größere Teil der Religionssoziologie im Sinne der Säkularisierungsthese annahm, er werde so weitergehen, gerade auch durch einen erdrutschartigen Glaubensabbruch in der jungen Generation, den sogenannten Kohorteneffekt. Neue Generationen treten schon weniger religiös in ihre Glaubensbiografie ein.

Der Unterschied zum Klimawandel ist, dass da wissenschaftlich ziemlich genau prognostizierbar war, wie der Trend sich entwickeln würde oder wie man ihn aufhalten kann. Das ist bei der Kirche weniger klar, denn es gibt eben kein "Rezept", also dass man sagen könnte: Hätte man frühzeitig dies oder das gemacht, dann wäre es so nicht gekommen.

Die Religionssoziologie sagt eigentlich eher: Die Kirchen sind weniger Herr ihres eigenen Erfolgs oder Misserfolgs als das oft in der Öffentlichkeit vermutet wird, sondern es gibt mächtige zivilisatorische Entwicklungen, die sie kaum beeinflussen können, die Säkularisierung begünstigen: Bildung, Individualisierung, Pluralisierung, Massenwohlstand, Versicherung gegen viele Lebensrisiken, der Wandel der Familien, dass also beispielsweise Mütter häufiger berufstätig sind, dass deswegen die religiöse Erziehung, die meistens mehr von den Müttern geleistet wurde, schon zeitlich etwas eingeschränkter ist. Oder dass die Generationen nicht mehr unter einem Dach leben, sodass die gläubige Großelterngeneration, die auch mehr Zeit hat, ihren Glauben dann an die Enkel weitergeben kann. Da gibt es soziologisch gesehen also mehrere Faktoren, die dem Handeln der Kirche weitgehend entzogen sind.

Andreas Püttmann zum Einfluss der Gesellschaft auf die Kirchen

"Es gibt mächtige zivilisatorische Entwicklungen, [...] die Säkularisierung begünstigen."

DOMRADIO.DE: Könnten Krisen wie der Ukraine-Krieg dazu führen, dass Menschen häufiger wieder in die Kirche gehen?

Püttmann: Diese Annahme halte ich für schwierig, denn wenn der Glaube erst einmal abhanden gekommen ist, können Krisen sogar abbruchverschärfend wirken, etwa indem die Theodizee-Frage wieder stärker wird: Wie kann Gott so was überhaupt zulassen?

Tendenziell gibt es zwar auch das "Not lehrt beten", aber Glaube muss auch ein Stück weit gelernt werden. Und wenn nichts da ist, kann man es auch schwierig auf Krisen anwenden. Glaubensabbau geschieht leichter als Glaubensaufbau.

DOMRADIO.DE: Was können die Christen dann überhaupt noch gegen den Trend tun?

Püttmann: Mutiger bekennen, treuer beten, fröhlicher glauben und brennender lieben - so sagte es mal der Rat der EKD im Stuttgarter Schuldbekenntnis 1945. Das bleibt als Devise immer aktuell. Ich würde hinzufügen: Die Verkündigung auf das Wesentliche des Glaubens und auf existenzielle Fragen fokussieren. Den sicheren Boden der Diakonia, der Caritas pflegen, an dem schon die frühen Christen als irgendwie - und anziehend - anders erkannt worden sein sollen.

Dazu gehört auch: Orte volkskirchlicher Präsenz nicht ohne Not eilfertig aufgeben, eine Geh-hin-Kirche bleiben, sich nicht ins Schneckenhaus, die Sakristei oder die Wagenburg zurückziehen. Lernfähig und demütig bleiben. Die Schönheit der Liturgien pflegen, Gottesdienste gewissenhaft vorbereiten, besonders Kasualien, und keine liturgische Hanswursterei einreißen lassen.

Andreas Püttmann verweist auf der Schuldbekenntnis der EKD von 1945

"Mutiger bekennen, treuer beten, fröhlicher glauben und brennender lieben."

Überzeugende Persönlichkeiten des Glaubens nach vorne stellen. Und gegen religiöse Pathologien, die es im Kirchenmilieu ja auch gibt, entschiedener vorgehen. Wenige Fanatiker und Spinner, gerade auch im Internet, können dem Ruf der Kirche erheblicher schaden als manchen Bischöfen klar zu sein scheint. Man muss nicht jede Versammlung von angeblich Superfrommen, die gegen theologische Gegner und Minderheiten hetzen, Putin als Hoffnung gegen westliche Dekadenz lobten oder sich Rechtspopulisten als Abendlandverteidiger andienen, mit Pontifikalämtern beehren. Papst Franziskus hat vor dieser eingebildeten Elite der Kirche in Evangelii Gaudium 93-97 eindrücklich gewarnt.

Quelle:
DR