Eigentlich klang es vor zwei Jahren sehr vielversprechend. Der damalige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, sprach sogar von einem Meilenstein: Als erste Institution hatte die katholische Kirche eine Vereinbarung zu einer unabhängigen Aufarbeitung von Missbrauch unterzeichnet. Sie verpflichtet sich darin unter anderem zur Einrichtung von Kommissionen und Betroffenenbeiräten. Bei den Kommissionen werden die Mitglieder teils von der Kirche, teils von der jeweiligen Landesregierung benannt und sämtlich vom Ortsbischof berufen.
Nach zwei Jahren mehren sich die Stimmen, die Zweifel daran haben, ob die Vereinbarung wirklich trägt oder ob zumindest Nachbesserungen nötig sind. Einige Kritiker sind sogar der Ansicht, dass in dieser Form keine unabhängige Aufarbeitung gelingen kann.
Verantwortung des Rechtsstaats
Dazu gehört der Kölner Jurist Stephan Rixen, der allerdings gerade selbst in die unabhängige Aufarbeitungskommission des Erzbistums Köln berufen wurde. Er warnt in einem Beitrag des "Kölner Stadtanzeigers" davor, dass die Aufarbeitung in der katholischen Kirche scheitern wird - wenn der Rechtsstaat nicht erkennbar Verantwortung übernimmt.
Zur Vereinbarung selbst sagt er, sie sei "falsch". Seine Begründung: Der Rechtsstaat akzeptiere "bedenkenlos die quasi-autokratische Binnenstruktur der katholischen Kirche. Gewaltenteilung ist hier ein Fremdwort". Was "unabhängig" bedeute, bestimme der jeweilige Bischof nach eigenem, unüberprüfbarem Ermessen, so der Jurist. Die Besetzung der Kommissionen müsse dringend "stärker rechtsstaatlich gesteuert" werden, um Kommissionen zu verhindern, "die bestenfalls Placebo-Aufarbeitung leisten könnten". Der Direktor des Instituts für Staatsrecht der Universität Köln fordert Bundes- und Landesgesetze, die die Aufarbeitung "demokratisch legitimieren und kontrollieren".
Rixen spricht von einem "bedenklichen Arrangement zwischen Staat und Kirche". Der Staat verstecke sich hinter der angeblich bewährten Kooperation mit den Kirchen. Und weiter: "All die kirchlichen Entschuldigungsroutinen, all die gekonnt weggeweinten Krokodilstränen, all die Rituale der Folgenlosigkeit, sie lenken nur davon ab, dass die katholische Kirche seit etwa zwanzig Jahren mit freundlicher Duldung des Staates die Aufarbeitung verschleppt".
Die mögliche Nähe von Kommissionsmitgliedern zum kirchlichen Milieu berge die Gefahr der Befangenheit. "Wenn dann noch Betroffene offenbar deshalb ausgewählt werden, weil sie 'den Bischof verstehen', sollte spätestens dann klar sein: Die Aufarbeitungskommissionen lassen sich personell auf Linie bringen, und ihre Unabhängigkeit wird zur reinen Fassade."
Reformbedarf bei Beteiligung von Betroffenen
Rörigs Nachfolgerin, Kerstin Claus, betont, sie könne die Kritik in Teilen nachvollziehen. Zugleich spielt sie den Ball zurück an die Politik. Sie habe es bislang abgelehnt, mehr Verantwortung zu übernehmen und für eine unabhängige Aufarbeitung zu sorgen. In einem Interview erklärt sie aber, dass sie selbst auch einen Reformbedarf sehe, etwa bei der Beteiligung von Betroffenen an der Aufarbeitung. In der Tat hat es in den vergangenen Jahren immer wieder Schwierigkeiten gegeben, genügend Betroffene für die Gremien zu finden.
Bei einem Treffen am 19. September will Claus Fragen und Erfahrungen über diese und andere Themen erstmals mit Vertretern der Aufarbeitungskommissionen erörtern, die inzwischen in den meisten Bistümer eingerichtet wurden.
Schon jetzt merkt Claus in dem Interview aber eigene Kritikpunkte an: Sie fände das Vorgehen einiger Bistümer bei der Auswahl von Betroffenen schwierig. Diese müssten sich fragen, ob es ausreiche, Ausschreibungen für entsprechende Beteiligungsgremien nur auf ihrer Homepage zu veröffentlichen oder ob es geschickt sei, dass die Bistumsleitung Betroffene direkt anspreche. "Dann melden sich eher sehr kirchennahe Menschen, was wiederum die Frage nach der Unabhängigkeit aufwirft", so Claus.
Ihrer Ansicht nach sind die Kriterien für die Aufgaben der Betroffenen innerhalb der Gremien nicht ausreichend genug formuliert, zudem gebe es keine klare Erwartungshaltung. Zusammen mit der bundesweit agierenden unabhängigen Aufarbeitungskommission, mit Betroffenen und anderen Fachleuten versuche sie derzeit selbst entsprechende Standards zu erarbeiten.
Stärkeres Engagement der Regierung
Zugleich stellt sie in dem Interview klar, dass sich die politische Situation mit der Ampelregierung verändert habe und die Regierung nun bereit sei, sich bei der Aufarbeitung stärker zu engagieren. SPD, Grüne und FDP hätten in ihrem Koalitionsvertrag eine gesetzliche Verankerung ihres Amtes vorgesehen und ein Recht auf Aufarbeitung als Option genannt. Der Staat müsse sich endlich seiner Verantwortung stellen, Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht verhindert zu haben, fordert Claus. Bis zum kommenden Sommer müsse ein entsprechender Gesetzesvorschlag stehen. In den vergangenen Jahren hatte sich vor allem der religionspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Lars Castellucci, für eine solche Haltung stark gemacht.
Auch bei ranghohen Kirchenvertretern hat es mit Blick auf die Aufarbeitung einen Wandel gegeben. Mehrfach erklärte etwa der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, er könne sich durchaus vorstellen, dass eine Art Wahrheitskommission eingerichtet werde.
So wäre vermutlich ein Vorfall, an den der Münsteraner Historiker Thomas Großbölting, Leiter der unlängst erschienen Studie zum Missbrauch im Bistum Münster, in einem Interview des Pressedienstes des Humanistischen Verbands (hpd) erinnert, so heute nicht mehr möglich: Vor zwölf Jahren hatte die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) der Bischofskonferenz einen mangelnden Aufarbeitungswillen vorgeworfen. Daraufhin hatte der damalige Vorsitzende der Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, ihr ein Ultimatum gesetzt, diese Aussagen wieder zurückzunehmen. Nach Angaben Großböltings schaltete sich damals Kanzlerin Angela Merkel (CDU) selbst als Vermittlerin ein. Sie habe dafür gesorgt, dass die Kirche wie gehabt weitermachen konnte.
Für ihn sei das eine Schlüsselszene, dass es damals ein kleines Fenster für eine staatliche Beteiligung gegeben habe, so Großbölting. Es erscheint aber auch aus heutiger Sicht sehr fraglich, ob dies mit Leutheusser-Schnarrenberger, deren Partei damals selbst von Vorwürfen einer Verharmlosung von Missbrauch in den 70-er und 80-er Jahren eingeholt wurde und die selbst dem Humanistischen Verband nahesteht, wirklich hätte gelingen können.