Gleich zu Beginn der Veranstaltung wird klar, es bedarf keines sorgfältig zusammengestellten Fragenkatalogs der Veranstalter, um zwei prominente Religionsvertreter, Navid Kermani für den Islam und Abt Nikodemus Schnabel für das Christentum, miteinander ins Gespräch zu bringen. Vielmehr leitet beide der große Wunsch, einander kennenzulernen und vom jeweils anderen zu erfahren, wie er auf den von der terroristischen Hamas am 7. Oktober durch ein grausames Massaker provozierten Krieg in Israel und Gaza blickt. Und so legt Karin Dierkes, Referentin für Theologie und Philosophie der Thomas-Morus-Akademie Bensberg, auch ihre Moderationskarten bereits bei der Begrüßung ihrer Gäste aus der Hand und zieht sich anders als geplant auf die Position der Zuhörerin zurück. Denn auch ohne Stichworte von außen haben Kermani und Schnabel einander, aber auch dem bis auf den letzten Platz gefüllten Auditorium im Kardinal Schulte Haus eine Menge zu sagen. Nicht zuletzt weil das umrissene Thema so komplex ist und es keine einfachen Antworten gibt. Wie auch, wenn ein seit Jahrzehnten schwelender Konflikt aktuell seinen traurigen Höhepunkt erreicht hat, ein Flächenbrand in der gesamten Region befürchtet wird und das eine Ausweitung unermesslichen Leids der Opfer auf allen Seiten bedeuten würde.
Und noch etwas schwingt an diesem Abend mit und bedarf nicht großer Worte: Kermani und Schnabel kennen Israel und Jerusalem, sie lieben die Menschen, die dort leben, wissen um die Geschichte des Landes, die politisch angespannte Lage und die stets präsenten Auseinandersetzungen – auch in Friedenszeiten. Doch für beide taugt die Rolle des bloßen Zuschauers nicht: Sie bringen sich in die Diskussion über Recht und Unrecht ein, beschreiben, was sie erleben, ohne zu werten, und ringen um Worte für den Schrecken, aber auch ihre fast trotzige Hoffnung, dass es auch anders gehen könnte, Verständigung, Annäherung und Kompromisse keine bloßen Worthülsen bleiben. Jeder auf seine Weise und aus der je persönlichen Perspektive.
Kermani hat Buch über das Christentum geschrieben
Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani, einer der führenden Intellektuellen in Deutschland "mit gewaltigen Debattenbeiträgen", wie ihn Martin Barth, der Generalsekretär der Görres-Gesellschaft – Mitveranstalterin des Abends – vorstellt, aber auch Krisenreporter, habilitierter Orientalist und mehrfach ausgezeichneter Kultur- und Literaturpreisträger, dessen Bücher in zahlreichen Sprachen übersetzt sind, hat noch vor wenigen Jahren den bemerkenswerten Bestseller "Ungläubiges Staunen" über das Christentum geschrieben – und das als Muslim. Darin versenkt er sich in die Bildwelt der christlichen Religion und schwärmt von ihrer Schönheit.
Diese Haltung, eben auch die Begegnung mit dem ganz Anderen zu suchen, seine Eigenheiten zu sehen und wertzuschätzen, macht ihn im Dialog mit Schnabel zu einem interessierten, fast wissbegierigen und vor allem aufmerksam zuhörenden Gesprächspartner, während der Benediktiner, der hoch auf dem Jerusalemer Zionsberg die Dormitio-Abtei leitet, in die er vor über 20 Jahren eingetreten ist, bereitwillig seine Beobachtungen, Erfahrungen, Erlebnisse und auch Sorgen während der letzten Monate im Heiligen Land teilt. Doch zunächst bringt er zum Ausdruck, wie viel ihm bedeutet, gemeinsam mit Kermani auf einem Podium zu sitzen. "Persönlichkeiten wie Sie würde ich mir weltweit mehr wünschen", betont er denn auch als erstes. Er lobt die Empathie seines Gegenübers, mit der dieser über die christliche Religion spricht und schreibt. "Wie anders sähe unser Zusammenleben aus, wenn wir den jeweils anderen stark machen würden. Ich bin dankbar, dass es Sie gibt und Sie den Diskurs über den interreligiösen Dialog mitbestimmen."
"Primitiver" und "intellektueller" Hass
Und dann spricht Schnabel über den Menschen als Ebenbild Gottes und dass diese Grundwahrheit – die große Überschrift über dem Menschsein – im Moment durch den vielerorts spürbaren Hass gefährdet sei. Konkret benennt der Ordensmann den "primitiven Hass", der sich darin äußere, dass sein persönliches Christsein angefeindet, auf der Straße die Waffe auf ihn gerichtet und er bespuckt werde. Dann aber, so argumentiert er weiter, gebe es auch einen "vornehmen, intellektuellen, bekömmlichen Hass", der im gesellschaftlichen Konsens den Tätern ihr Menschsein abspreche, wenn die Hamas-Terroristen als Tiere in Menschengestalt bezeichnet würden und die Israelis in Gaza als Monster. "Man ist sich darin einig: Der je andere ist kein Mensch mehr."
Damit gerate etwas Grundentscheidendes ins Wanken: die unantastbare Würde des Menschen, wie sie in Artikel 1 des Grundgesetzes festgeschrieben sei. Doch die unverlierbare Würde des Menschen – auch die von Schwerstkriminellen, selbst wenn er ihr Handeln verurteile – sei vor jeder Gesetzgebung, "weil der Mensch ein Spiegelbild Gottes ist", erklärt Schnabel unmissverständlich. Aus diesem Verständnis heraus beziehe er selbst auch keine Position: weder pro Israel noch pro Palästina, sondern ausschließlich pro Mensch. "Wir sind auf beiden Seiten Teil des Konflikts. Das ist unsere Haltung als Christen, die uns verbietet, einseitig zu sein."
Hinter den Opferzahlen den einzelnen Menschen sehen
Der Benediktiner warnt vor eine Dehumanisierung, "auch wenn ich mit meinen Versuchen einer Humanisierung anecke, weil wir auch für die Feinde beten". Dabei habe Jesus von Nazareth nichts anderes vorgelebt, indem er dem sogenannten "guten Schächer" am Kreuz, einem seiner beiden Mitgekreuzigten, im Angesicht des Todes zugesagt habe, noch heute mit ihm im Paradies zu sein. "Weil er Gott im letzten Moment um Barmherzigkeit angefleht hat." Und Schnabel warnt davor, hinter den Opferzahlen nicht mehr den einzelnen Menschen zu sehen. Er kenne niemanden, der nicht unmittelbar von diesem Krieg betroffen sei oder einen Angehörigen verloren habe. "Ich bin umgeben von einem Ozean von Leid", schildert er aus seinem Alltag.
"Wer hasst, dämonisiert den anderen", stellt Navid Kermani fest. Hass sei eine Urkraft und nicht rational. Sei dieser erst einmal da, werde es sehr, sehr schwierig, zu einer politischen Lösung zu kommen, schildert der Publizist, der schon in vielen Kriegen unterwegs gewesen und oft Hass begegnet ist, wie er berichtet. Auch in Butscha und Mariupol, wo ihm Menschen gesagt hätten, dass sie die Russen aus tiefstem Herzen hassten. "Wer bin ich von außen, der dann sagt ‚Aber Stop’?" Auch bei Besuchen in Palästina vor vielen Jahren, als es in der Region noch Hoffnung gegeben habe, sei ihm schon Hass begegnet, was ihn zutiefst pessimistisch gestimmt habe. "Ich mag mir nicht ausmalen, wie hart die Urteile über die jeweils andere Seite nun nach dem 7. Oktober ausfallen." Er wisse auch keinen Ausweg, räumt Kermani ein. Schon die Autoren der Weltliteratur hätten sich mit dem Phänomen des Hasses auseinandergesetzt. Und wenn sowohl im Christentum als auch im Islam Gott für den Menschen ein Vorbild sei, dann müsse man davon ausgehen, dass auch Gott Anteile von dieser menschlichen Eigenschaft habe. Dafür reiche ein Blick in die Bibel oder den Koran.
Kermani setzt auf Begegnung als Weg aus der Dämonisierung heraus und argumentiert: "Der größte Feind von Feindbildern ist, den Feind kennenzulernen, weil es nicht nur gut und nicht nur böse gibt." Die Folge des Hasses sei ja, dass man den anderen gar nicht mehr kennenlernen wolle. So hielten die Menschen in der Ukraine nicht einmal mehr für möglich, sich mit einem Gegner Putins an einen Tisch zu setzen, weil man diesen als einen Vertreter des Kollektivs wahrnehme. "Wenn aber die Bereitschaft zur Begegnung nicht mehr da ist, ist es ein weiter Weg."
Und dennoch – so schwierig die Situation im Nahen Osten auch anmute – Einigkeit herrsche auf beiden Seiten bei der Hoffnung auf einen Waffenstillstand – auch zur Befreiung der Geiseln. "Es ist für mich ein Albtraum, was sich seit über sechs Monaten vor unseren Augen abspielt. Ich habe schon viel gesehen, aber noch nie eine so lange andauernde katastrophale und humanitäre Krise wie diese", sagt Kermani.
Schnabel appelliert dafür, die Spirale des Hasses zu durchbrechen und emotional nicht teilnahmslos zu bleiben. Ihm fehlten die religiösen Stimmen, die sich für Versöhnung stark machten und sich mutig für Frieden einsetzten, moniert der promovierte Liturgiewissenschaftler, Ostkirchenkundler und Direktor des Jerusalemer Instituts der Görres-Gesellschaft. "Wir haben die Wahl, auf Hass nicht mit Hass zu antworten." Jesus von Nazareth habe dazu aufgerufen, "wir sollen segnen, die uns verfluchen, und lieben, die uns hassen". Dieser Wahl-Aspekt, so Schnabel, werde viel zu wenig eingebracht. Auch wenn es völkerrechtlich korrekt zugehe, hätten gläubige Menschen, egal welcher Religion zugehörig, doch noch eine darüber hinaus gehende, andere Botschaft. Dafür aber müssten sie sich zusammenschließen, wie er es selbst in vielen konstruktiven Gesprächen mit Rabbinern und Muslimen erlebe, in denen Dialog möglich sei. Selbstbestimmungsrecht und Selbstverteidigung, hinter denen sich alle verschanzten, seien jedenfalls keine Begriffe aus der Bibel.
"Wir sind kleine bebende Vulkane. Nutzen wir das für konstruktive Reaktionen!", appelliert er leidenschaftlich an seine Zuhörer. "Mir fehlen derzeit die religiösen Einwürfe von der Seitenlinie, auch gegenüber der Politik." Obwohl die friedfertigsten Statements von religiösen Menschen kämen, würden die schrillen Stimmen zurzeit mehr durchdringen als die moderaten. Problematisch sei nicht, wenn die Religion politisiere, aber umgekehrt: wenn die Politik religionisiere, sprich sich eines religiösen Vokabulars bediene, um damit das eigene Vorgehen zu legitimieren. "Solche Kommunikationsfouls regen mich auf", so der Gast aus Jerusalem.
Ob er angesichts der bestehenden Blockade und Vielschichtigkeit der Bedürfnisse – die jüdischen Israelis haben eine Grundsehnsucht nach Sicherheit, die palästinensischen Gesprächspartner eine Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung – überhaupt eine Morgenröte sehe, will Kermani von dem Benediktiner wissen. "Wir müssen den Kompromiss enttabuisieren", zitiert Schnabel daraufhin den 2018 verstorbenen israelischen Schriftsteller Amos Oz, "und sollten unsere Politiker nicht dafür feiern, dass sie klare Kante zeigen."
Statt einfacher Schlagworte Geschmack auf Komplexität machen
Zu wenige könnten dem Kompromiss etwas abgewinnen, dabei sei er etwas Schönes, Wertvolles und Würdiges. Und dann betont der katholische Kirchenvertreter noch einmal: "Gott hat uns die Fähigkeit zur Versöhnung, zum Dialog, zum Friedensschluss geschenkt. Unsere Religion ist da klipp und klar: Ich soll mich versöhnen und den Fremden wertschätzen. Gerade als Religionsverantwortliche müssen wir zeigen: Kompromiss ist etwas Wunderbares." Auch wenn die Menschen nach einfachen Schlagworten hungerten, "müssen wir ihnen Geschmack auf Komplexität machen".
Und die Reaktionen der Kirchen auf den Konflikt? Auch danach fragt Kermani, der 2015 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten und sich immer auch intensiv mit dem Katholizismus beschäftigt hat. Der Papst sei da sehr eindeutig, antwortet ihm Schnabel. "Nur Tränen für eine Seite – das Spiel machen wir nicht mit." Und dann holt er Menschen, die er als "Glaubensgeschwister" bezeichnet und die in den letzten Wochen und Monaten in Israel und Gaza ihr Leben verloren haben, noch einmal mitten in diesen Akademieabend, indem er deren Geschichte erzählt. Damit bekommt in diesem intensiven Austausch über Krieg und die Hoffnung auf ein Ende der Gewalt im Nahen Osten das tausendfache Leid dort mit einem Mal einen Namen und ein konkretes Gesicht.