Wie lässt sich Allerheiligen heute noch mit Leben füllen?

"Niemand wird durch den Tod ausradiert"

Der Friedhofsbesuch gehört traditionell Anfang November für viele dazu. Angehörige zeigen damit eine besondere Nähe zu ihren geliebten Verstorbenen. Gleichzeitig stellen sie sich dabei meist unbewusst ihrer eigenen Endlichkeit.

Tod und Auferstehung gehören für Christen zusammen. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Tod und Auferstehung gehören für Christen zusammen. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Herr Dr. Hammes, an Allerheiligen und Allerseelen gehen viele Menschen zu ihren Verstorbenen auf den Friedhof. Für sie ist der Besuch am Grab Teil ihrer religiösen Praxis, die sich im Trauermonat November mehr als zu anderen Zeiten zeigt. Warum ist das eigentlich so?

Pfarrer Dr. Axel Hammes / © Beatrice Tomasetti (DR)
Pfarrer Dr. Axel Hammes / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Pfarrer Dr. Axel Hammes (Lehrbeauftragter am Bonner Priesterseminar und am überdiözesanen Priesterseminar Lantershofen): Das bringt allein schon die dunklere Jahreszeit mit sich: Die Natur stirbt ab, die Tage werden kürzer, und auch wir sind mehr nach innen gekehrt. Alles, was sich um uns herum sichtbar verändert, erinnert uns an die eigene Vergänglichkeit und daran, dass alles Lebendige dem ständigen Wandel unterworfen ist. Wir sind ins Dasein gekommen und müssen auch wieder gehen. Dieser Kreislauf von Geborenwerden und Sterben lässt sich besonders anschaulich gerade am Herbst ablesen.

Friedhöfe konfrontieren mit der eigenen Endlichkeit. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Friedhöfe konfrontieren mit der eigenen Endlichkeit. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

In früheren Zeiten waren die Kirchen noch von Friedhöfen umgeben. Damit waren vergangene Generationen, unsere Verstorbenen, immer bei uns. Denn das entspricht der Botschaft unseres Glaubens: Bei der Feier des Gottesdienstes sind wir nie allein, nie nur unter uns. Der Friedhof war die "erweiterte Kirche". In einer orthodoxen Kirche wird das besonders gut sichtbar. Hier sind die Wände der Sakralbauten immer mit dem ganzen Panorama der Heilsgeschichte ausgemalt. Bei jeder Messfeier, wenn die Gemeinde vor Gott steht, erweitert sie den Horizont in den Himmel, in die Ewigkeit hinein. Hier wird deutlich, die kleine Gemeinschaft der versammelten Gemeinde vereint sich mit der großen Gemeinschaft aller Heiligen der Kirche.

Pfarrer Dr. Axel Hammes

"Denn zur Heiligkeit sind alle Christen berufen. Heiligkeit heißt, dass wir mit Gott verbunden sind, ihm gehören und selbst auch etwas Göttliches in uns tragen."

Allerheiligen ist der Tag, der den vielen oft unscheinbaren Heiligen des Alltags und damit uns allen gewidmet ist. Denn zur Heiligkeit sind alle Christen berufen. Heiligkeit heißt, dass wir mit Gott verbunden sind, ihm gehören und selbst auch etwas Göttliches in uns tragen. Wir säßen nicht hier, wenn es diese vielen kleinen Heiligen nicht gäbe, die den Glauben von Generation zu Generation weitergetragen haben, ohne dass sie je groß im Rampenlicht gestanden hätten. Unser aller Bestimmung ist, Gemeinschaft der Heiligen zu sein. Darin leuchtet das Wesen der Kirche auf.

Allerheiligen zünden viele Menschen ein Licht für den geliebten Verstorbenen an. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Allerheiligen zünden viele Menschen ein Licht für den geliebten Verstorbenen an. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Während Allerseelen eher die Verlängerung von Allerheiligen ist. Dieser Tag vergegenwärtigt uns, dass jedes Leben ein Fragment ist, abgebrochen durch den Tod. Gott muss es erst vollenden. Er allein kann es auch. Das Unfertige, Unausgegorene in unserem Leben empfehlen wir seiner Barmherzigkeit: die Risse und Unzulänglichkeiten in unserem Leben, die wie Wunden sind und die nur Gott allein heilen kann. Insofern gehören Allerheiligen und Allerseelen wie Licht und Schatten zusammen. Sie sind die zwei Seiten einer Medaille.

DOMRADIO.DE: Totengedenken gehört zur christlichen Kultur, selbst wenn man nicht besonders gläubig ist. Was genau feiern wir am Hochfest Allerheiligen?

Erinnern und Gedenken gehört zur jüdisch-christlichen DNA. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Erinnern und Gedenken gehört zur jüdisch-christlichen DNA. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Hammes: Die jüdisch-christliche Tradition lebt von der Erinnerung. Und unsere zentrale Glaubensfeier lebt von dem Auftrag Jesu "Tut dies zu meinem Gedächtnis". Auf einer Tafel der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem steht zu lesen: "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung." Das Gedenken gehört zur jüdisch-christlichen DNA dazu, weil wir an einen Gott glauben, der nichts und niemanden vergisst. Das bezeugen wir nicht zuletzt durch unsere christliche Bestattungskultur. Niemand wird durch den Tod ausradiert. Denn für Gott ist nichts, was aus Liebe geschehen ist, umsonst. In seiner Welt findet es einen ewigen Platz. Deshalb halten wir das Andenken der Verstorbenen in Ehren, betrachten die Vergangenheit als den Grund unserer eigenen Identität. Denn es ist die Geschichte Gottes mit seinem Volk, zu dem wir gehören.

DOMRADIO.DE: Friedhöfe haben oft etwas Mystisches an sich und laden, gerade wenn es sich um weitläufige Parkanlagen wie in Köln handelt, zu Spaziergängen ein, aber auch fast zwangsläufig zu der Auseinandersetzung mit den letzten Fragen; Themen, die wir gerne verdrängen, obwohl Sterben und Tod für den christlichen Glauben doch sehr zentral sind. Warum ausgerechnet die Beschäftigung mit so etwas Düsterem und Beängstigendem?

Parkanlagen wie Melaten mit monumentalen Grabstätten laden zur Auseinandersetzung mit Sterben und Tod ein. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Parkanlagen wie Melaten mit monumentalen Grabstätten laden zur Auseinandersetzung mit Sterben und Tod ein. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Hammes: Bei Christen wie Nicht-Christen gibt es ein eschatologisches Vakuum. Das, was uns jenseits des Todes erwartet, erscheint vielen nicht greifbar, nicht real. Deshalb ist das viel Größere, das Transzendente gar nicht mehr denkbar. Die Welt und auch die Kirche haben sich radikal ins Diesseits vergraben. So werden Sterben und Tod nach wie vor weitgehend aus dem Leben ausgegrenzt. Unsere Friedhöfe weisen heute immer mehr Lücken auf, weil sie als Erinnerungsorte keine bedeutende Rolle mehr spielen. Viele Angehörige wählen inzwischen einen Friedwald oder sagen: Ich trage den geliebten Verstorbenen doch in mir. Wozu da noch ein Grab?

Pfarrer Dr. Axel Hammes

"Dabei zeigt ein Grab doch sehr anschaulich, dass es zwei Realitäten für Christen gibt: den unabwendbaren Tod und die uns verheißene Auferstehung von den Toten. Beides gehört zusammen."

Das Grab aber ist ein Indiz dafür, dass jemand zwar die Seite gewechselt hat, aber doch uns verbunden bleibt. Da kann ich als Angehöriger loslassen, bewusst Abschied nehmen. Wenn wir meinen, einen solchen Ort nicht mehr zu brauchen, verdrängen wir nur zu leicht diese unabänderliche Wirklichkeit. Dabei zeigt ein Grab doch sehr anschaulich, dass es zwei Realitäten für Christen gibt: den unabwendbaren Tod und die uns verheißene Auferstehung von den Toten. Beides gehört zusammen. Von daher bleibt es nicht düster und auch nicht beängstigend, im Gegenteil: Es ist doch gerade die Auferstehung, diese Hoffnung auf ein neues Leben, die mich nicht in Trauer erstarren lässt.

Blumenschmuck auf dem Grab steht symbolisch für neu erblühendes Leben. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Blumenschmuck auf dem Grab steht symbolisch für neu erblühendes Leben. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Als sichtbares Zeichen dafür schmücken wir unsere Gräber mit Blumen, Symbol für das Aufblühen des Lebens, das in die Erde gesenkt wurde. Und auch die Kreuze auf unseren Grabsteinen stehen für diese doppelte Wirklichkeit: Jesus hat am Kreuz den Tod erlitten, aber darin zugleich die Macht des Todes für immer gebrochen. Jeder Friedhof verkündet eine große Botschaft, die Mut macht wie keine zweite.

DOMRADIO.DE: Für die ältere Generation spielten noch Begriffe wie "Fegefeuer" und "Hölle" im Kontext von Sterben und Tod eine Rolle. Warum kommt solches Denken bei uns heute kaum noch vor, wo wir doch gerade um uns herum ganz konkret die "Hölle auf Erden" erleben?

Hammes: In der heutigen Verkündigung steht nicht mehr der richtende und strafende Gott im Vordergrund, sondern seine Barmherzigkeit. Sein Wesen ist schließlich die Liebe. Das ist auch gut und richtig so. Aber die "Hölle auf Erden" – womit Sie zu Recht auch die kriegerische Gewalt in Nahost und der Ukraine ansprechen – sollte die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes wieder in uns wecken. Man kann niemals von Gottes Barmherzigkeit sprechen, ohne auch nach seiner Gerechtigkeit zu rufen.

Die gehäuften Krisen, Katastrophen und Kriege unserer Zeit führen meinen Glauben zu einem neuen Ringen darum, wie Gott den ganzen Zerrüttungen und Zerstörungen noch gerecht werden will, und vor allem den unzähligen Opfern der Geschichte. Die Verkündigung muss auch das Gericht wieder mehr ins Spiel bringen. Das Gericht erwartet uns alle am Ende der Zeit – nicht als Drohgebärde, sondern als Ausdruck der Solidarität mit denjenigen, denen das irdische Leben alles geraubt hat. So viele Menschen erfahren nichts als bitteres Leid und werden frühzeitig aus diesem Leben gerissen.


DOMRADIO.DE: Ein Friedhofsbesuch kann bei einer Verlusterfahrung stärken und trösten, weil man hier dem geliebten Angehörigen nahekommen kann. Wie muss unsere Pastoral ausgerichtet sein – gerade angesichts immer weniger zur Verfügung stehender Seelsorger – um Menschen in ihrer Trauer beizustehen?

Hammes: In Zeiten, in denen das Netzwerk von Familie und Freunden brüchiger geworden ist und nicht mehr wie früher selbstverständlich trägt, ist es in der Tat wichtig, sich mehr Zeit für die Trauerbegleitung zu nehmen. Zunehmend mehr Menschen sind nicht mehr in Gruppierungen, Vereinen oder auch der Kirchengemeinde am Ort gut eingebunden, wo sie Halt finden könnten. Da ist es gut, dass das Bistum mit eigenen Kursangeboten dieses Thema aufgreift und verstärkt Ehrenamtliche in pastoraler Begleitung von Trauernden schult. Denn es ist Auftrag der ganzen Kirche, die Trauernden nicht allein zu lassen und sie kompetent zu begleiten. Das Thema verdient eine größere Aufmerksamkeit.

Pfarrer Dr. Axel Hammes

"Es genügt nicht, Hoffnung nur zu behaupten. Man muss sie gemeinsam mit den Trauernden auch wieder auffinden."

Auch wir Hauptamtlichen sollten uns für die Begleitung von Menschen, die Zuspruch, Stärkung und Ermutigung brauchen, immer ausreichend Zeit nehmen. Es rührt schließlich an den Kern unseres Auftrags. Auch uns "pastoralen Profis" kann eine regelmäßige Nachschulung dabei nicht schaden. In unserer Gesellschaft müssen wir neue Netzwerke für Trauer und Trost knüpfen. Dafür ist die professionelle Seelsorge auf viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter angewiesen. Denn es genügt nicht, Hoffnung nur zu behaupten. Man muss sie gemeinsam mit den Trauernden auch wieder auffinden.

Trauernde zu trösten versteht die Kirche als eine ihrer Kernaufgaben. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Trauernde zu trösten versteht die Kirche als eine ihrer Kernaufgaben. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Was ist mit den vielen, die niemanden mehr haben, der den letzten Weg mit ihnen geht?

Hammes: Der "einsame Tod" wird uns zunehmend beschäftigen, und in Zukunft wird ein wesentlicher Dienst der Kirche darin bestehen, auch diesen Tod mit Würde zu begleiten. Auch hier ist die gesamte Gemeinschaft der Glaubenden vor Ort gefragt. Zum Glück gibt es dazu in den großen Städten vereinzelt bereits Initiativen. Schließlich trifft die Überalterung der Gesellschaft verstärkt auch auf die Kirche zu, Vereinsamung bleibt oft zu lange unerkannt. Deshalb wird auch das Thema, einen Verstorbenen, der keine Angehörigen mehr hat, in Würde zu verabschieden für uns eine immer größere Herausforderung. Die Sorge um den Mitmenschen endet für uns Christen eben nicht mit dem Tod. Gerade in der Trauerpastoral sollten wir zeigen, wie echt und belastbar unsere Hoffnung ist.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Allerheiligen und Allerseelen

Gedenk- und Trauertage im November. Während die römisch-katholische Kirche an Allerheiligen wortwörtlich all ihrer Heiligen gedenkt, ist Allerseelen der Tag, an dem durch Fürbitte und Gebet an die Verstorbenen erinnert wird.

Die Gedenktage am Ende des Kirchenjahres sollen die Menschen trösten, etwa wenn der Verlust eines Angehörigen zu beklagen war. Zugleich rücken die christlichen Trauertage mit ihrer vielfältigen Symbolik die Vergänglichkeit des Lebens und die Allgegenwärtigkeit des Todes in den Mittelpunkt.

Symbolbild Kerzenlicht / © Bobby Stevens Photo (shutterstock)
Symbolbild Kerzenlicht / © Bobby Stevens Photo ( shutterstock )
Quelle:
DR