DOMRADIO.DE: Frau Andresen, Sie haben 2018 eine Studie über Missbrauch im kirchlichen Kontext veröffentlicht und dafür mit vielen Betroffenen gesprochen. Was bedeutet es für diese Menschen, wenn sie jetzt, wo das Thema in der Öffentlichkeit und den Medien sehr präsent ist, ständig damit konfrontiert sind?
Prof. Sabine Andresen (Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs): Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen, denen es sehr wichtig ist, weil sie den Eindruck bekommen, dass sie nicht alleine mit ihren Erfahrungen sind. Denn dieses Gefühl hatten sie oft als Kinder und auch später als Erwachsene. Viele fragen sich aber auch, warum das erst jetzt so ein großes Thema ist und welche Rolle sie als Betroffene in der Aufarbeitung spielen.
Und es wird andere geben, die sich nicht mehr damit persönlich auseinandersetzen und belasten möchten. Manche sicherlich auch, weil sie das Vertrauen verloren und nicht den Eindruck haben, dass die Kirche aufrichtig an Aufarbeitung interessiert ist.
DOMRADIO.DE: Die meisten Betroffenen haben die Erfahrung gemacht, dass man ihnen nicht glaubte: Nicht als Kinder, als sie missbraucht wurden. Und nicht als Erwachsene, die versuchen, das Thema anzusprechen. Vorwürfe wurden bagatellisiert und nicht ernst genommen. Was macht das mit Menschen?
Andresen: Es führt sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen zu einem Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Denn Kinder wissen eigentlich schon im jungen Alter, dass das, was man ihnen antut, falsch ist und sie das nicht wollen, auch wenn sie dafür noch keine Sprache haben. Wenn sie dann aber die Erfahrung machen, dass die Umwelt auf ihre Signale nicht reagiert und die Taten nicht unterbindet, dann entsteht bei dem Kind der Eindruck: Was hier geschieht, ist richtig. Und es ist meine Schuld, dass ich das falsch finde oder dass mir das angetan wird.Und wenn das Kind dann noch erlebt, dass dem Täter, also beispielsweise einem Priester, weiterhin Verehrung und Respekt entgegengebracht wird, führt das zu Verwirrung und Verletzung.
Viele Betroffene haben uns als Kommission berichtet, dass sie sich ähnlich fühlten, als sie sich als Erwachsene an die kirchlichen Institutionen gewendet haben. Sie wurden auch da zurückgewiesen, ihnen wurde wieder nicht geglaubt, es wurde versucht, Taten zu bagatellisieren und zu vertuschen.
Und man muss sich schon die Frage stellen, warum ausgerechnet in der Kirche, die vorgibt, die Schwachen und Verwundbaren zu schützen, Menschen solche Erfahrungen machen müssen.
DOMRADIO.DE: Haben Sie eine Erklärung dafür?
Andresen: Ein Grund sind sicher die Machtverhältnisse, das starke hierarchische Verhältnis der Geistlichen zu den Laien. Da muss man sich gar nichts vormachen: Es prägt auch das Selbstbild von Menschen, wenn sie sich durch ihre Rolle als höherwertig empfinden, Macht haben und ausüben. Offenbar hat in der Vergangenheit ein Teil der Geistlichen dieses Machtgefälle bei Kindern ausgenutzt, aber auch bei erwachsenen Betroffenen. Wir beobachten, dass es ganz schnell zur Abwertung von Missbrauchsopfern kommt, indem ihre Glaubwürdigkeit infrage gestellt oder ihnen eine Mitschuld gegeben wird. Das ist eine perfide Täterstrategie.
Und da ist auch die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein: Sexueller Kindesmissbrauch ist schon lange eine Straftat. Es kann keiner erzählen, dass das nicht bekannt war. Und jetzt wird in Studien aufgedeckt, wie sich Verantwortliche innerhalb der Kirche der strafrechtlichen Verfolgung entzogen haben, Taten innerkirchlich behandeln und Wissen über Täter und Taten vertuschen. Das sind Struktur- und Ideologiefragen, die über Aufarbeitung hoffentlich weiter umfassend aufgeklärt werden.
DOMRADIO.DE: Was kann Aufarbeitung denn leisten, was wünschen sich Betroffene?
Andresen: Viele Betroffene wünschen sich einen deutlich sichtbaren Willen zu Aufklärung und Aufarbeitung und eine klare Übernahme von Verantwortung durch Institutionen. Ohne Hintertür. Wenn Fakten belegen, dass Taten vertuscht, Täter geschützt und Betroffenen nicht geholfen wurde, erwarten sie, dass Verantwortung übernommen wird.
Für einige Betroffene es wichtig, dass man sie um Verzeihung bittet und sie die Möglichkeit haben, dies zu gewähren oder aber auch zu verweigern. Und viele wünschen sich eine Anerkennung des Unrechts und des Leids, das ihnen zugefügt wurde und mit dem sie weiterleben müssen. Zu den Folgen des Missbrauchs zählt auch, dass viele am Rande des Existenzminimums leben, weil sie gesundheitlich nicht in der Lage sind, über einen längeren Zeitraum erwerbstätig zu sein oder die Therapien selber zahlen mussten. Einige sind frühverrentet, weil sie den Druck nicht mehr aushalten. Das sind ökonomische Folgen, die in den Blick genommen und sich auch in finanziellen Anerkennungsleistungen niederschlagen müssen. Aber der wichtigste Maßstab bei der Aufarbeitung ist, dass sie nicht dazu führen darf, dass Betroffenen noch einmal Leid zugefügt wird.
DOMRADIO.DE: Sie sagen die Betroffenen wünschen sich einen unbedingten Willen zur Aufklärung. Sehen sie das in deutschen Bistümern?
Andresen: Ich sehe schon, dass sich seit 2010, als der Jesuitenpater Klaus Mertes Missbrauchsfälle an seiner Schule öffentlich machte, einiges getan hat. Mein Eindruck ist, dass es in den Bistümern unterschiedlich schnelle Gangarten gibt. Und wenn ich nicht nur auf die Bischöfe schaue, sehe ich viele, die den Willen haben, in der Kirche etwas voranzubringen. Darum sollten diese Kräfte gestärkt werden, damit Aufarbeitung im Interesse von Betroffenen vorangebracht wird.
Es gibt aber auch diejenigen die – um es höflich zu nennen – sehr zögerlich sind und eine Hintertür suchen. Es kommt jetzt sehr darauf an, wie die Erklärung, die der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs mit der Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2020 geschlossen hat, in jedem Bistum umgesetzt wird. Vielleicht braucht es irgendwann auch noch andere Formen der unabhängigen Aufarbeitung. Aber die entscheidende Frage ist: Wie lange können Betroffene noch warten? Bei Taten, die Jahrzehnte zurück liegen und Betroffenen, die immer älter werden, ist das auch eine Frage der Zeit.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.