DOMRADIO.DE: Wie hat der Anschlag das Stadt- und Gemeindeleben in den vergangenen drei Jahren geprägt? Ist die Betroffenheit weiterhin groß oder hat man sich schon daran gewöhnt?
Andreas Weber (Dechant und Pfarrer der Gemeinde St. Elisabeth in Hanau): An diesen Anschlag wird man sich nie gewöhnen. Er ist tief eingeschnitten in die Erinnerung der Stadt. Nach drei Jahren ist es sicher noch frisch. Durch Corona waren Gedenkmöglichkeiten eingeschränkt, aber der Anschlag ist täglich präsent, weil es eine Tat war, die in der Nachbarschaft geschehen ist. Ein Nachbar hat andere junge Menschen aus der Nachbarschaft umgebracht. Wir erleben, dass auch viele Jugendliche aus unserer Jugendarbeit Opfer gekannt haben; sie waren mit ihnen im Kindergarten, in der Schule. Es war eine Tat, die ganz, ganz nah ist und deshalb auch zunächst nicht heilen kann.
DOMRADIO.DE: Wie wird heute in Hanau an die Opfer erinnert?
Weber: Es gibt viele dezentrale Angebote, das haben wir vom Runden Tisch der Religionen auch gefördert. In unserer Kirche haben wir in einer Messe mit jungen Leuten neun bzw. zehn Kerzen entzündet, die Namen genannt und an diesen Anschlag erinnert. Es gibt aber auch zentrale Veranstaltungen, an denen wir als Christen teilnehmen. Wir sind intensiv bei der großen Veranstaltung, zu der Stadt und Land eingeladen haben, dabei. Am Abend findet ein Treffen an den Anschlagsorten statt, auch da gehen wir hin. Den ganzen Tag über finden Gedenkveranstaltungen statt und wir gehen begleitend mit.
DOMRADIO.DE: Das Motto lautet "Gegen das Vergessen, für Toleranz und Menschenwürde". Wie versucht die Katholische Kirche vor Ort, sich für Toleranz und Menschenwürde einzusetzen?
Weber: Wir sind sehr froh über die Initiativen, die entstanden sind. Es gibt zum Beispiel die Bildungsinitiative der Mutter eines Opfers, die ich auch kennengelernt habe. Diese Initiativen gegen Rassismus in den Schulen, im Religionsunterricht, in Katechesen, im Firmunterricht, in Kommunionstunden fördern wir natürlich auch. Wir erinnern daran, dass Rassismus in unserem Bereich keinen Platz hat. Wir als katholische Christen oder Christen allgemein geben ein vielfältiges Bild ab. Auch die, die "ausländisch aussehen" - wenn man das so sagen darf - die anders sind als wir, gehören zur Gemeinschaft der Christen. Und das spielt natürlich in die ganze Stadtgesellschaft hinein. Hanau ist eine bunte Stadt, schon immer gewesen. Deshalb hat es uns auch ganz ins Herz getroffen, dass bei uns so etwas passiert, wo Menschen von Kindheit an mit vielen Kulturen und anderen Auffassungen, anderem Aussehen, verbunden sind und ein gutes Miteinander haben.
DOMRADIO.DE: Der dritte Jahrestag fällt in diesem Jahr auf den Karnevalssonntag. In Hanau ist dieser Tag dem Gedenken gewidmet. Wie empfinden Sie diesen Umstand - Ist da eine Diskrepanz zu spüren? Oder geht beides?
Weber: Es ist beides, aber es ist auch wirklich eine Diskrepanz zu spüren. Der Gottesdienst bei uns war ganz getragen von diesem Gedenken. Wir haben am Runden Tisch der Religionen in Verbindung mit der Stadt gemeinsam überlegt und gesagt, der Karneval soll stattfinden. Hanau ist keine Karnevalshochburg wie Köln aber trotzdem wird Karneval gefeiert. Ich war beim Umzug dabei und da habe ich auch gedacht, dass es richtig ist, dass der stattfindet. Es waren viele Kinder, Jugendliche, Erwachsene da, es gab Motivwagen und Blaskapellen. Auch der Magistrat hatte mit dem Oberbürgermeister und der Stadtverordnetenvorsteherin einen Wagen. Auch hier hat man wieder die unterschiedlichen Herkünfte der Menschen gesehen, es war ein frohes Miteinander.
Dieses freudige Leben muss auch weitergehen, das haben wir am Anfang alle gesagt. Es darf beides sein; und das wurde auch mit den Opferfamilien so besprochen. Der Umzug wurde allerdings umgelenkt. Früher ging er am Heumarkt vorbei, einem der Anschlagsorte; das hat man dieses Jahr vermieden und einen anderen Weg gesucht. Es bleibt eine Spannung, das spüre ich. Die tiefe innere Freude oder Ausgelassenheit ist stark gedämpft.
Das Interview führte Elena Hong.