DOMRADIO.DE: Wie sah denn der Dom vor 700 Jahren aus bei seiner Weihe?
Prof. Dr. Barbara Schock-Werner (ehemalige Kölner Dombaumeisterin): Bei seiner Weihe stand der Domchor bis zum Querhaus, also bis zu der Stelle an der heute die Kanzel steht. Ob dahinter im Westen, da wo das Langhaus heute ist - wo der alte Dom noch stand oder schon weitgehend abgebrochen wurde oder teilweise abgebrochen ist - das wissen wir nicht ganz genau, denn man hat erst mal den Ostteil des Vorgängerbaus abgebrochen, den neuen Chor gebaut und dann erst weitergebaut. Und dazu musste man den alten karolingischen Dom abbrechen. Ich würde sagen, im Osten stand ein perfekter neuer gotischer Chor und im Westen eine Ruine.
DOMRADIO.DE: Was ist denn heute noch original wie vor 700 Jahren?
Schock-Werner: Der Domchor steht ziemlich unverändert. Ausgewechselt wurde immer nur die Oberfläche. Alles, was unter der Oberfläche ist, sowie der gesamte Innenraum, das ist sozusagen steinern, noch original. Neu dazugekommen oder verändert wurde zum Beispiel die Zwickelbemalung, die mittelalterliche Bemalung. Sie wurde im 19. Jahrhundert durch eine inhaltlich gleiche, aber eben modernere Bemalung ersetzt.
Es stand mit großer Wahrscheinlichkeit schon das Chorgestühl. Da stand der Hochaltar mit diesen wunderbaren Marmorfiguren. Es war das Achsfenster fertig, also das kleine Fenster in der Achse, und der gesamte Obergarten war verglast. Der wurde schon um 1300 verglast. Es gab eine riesige Glasmalwand. Wahrscheinlich waren die seitlichen Fenster der Chorkapelle noch in Grisaille (Malerei, die ausschließlich in Grau, Weiß und Schwarz ausgeführt wurde, Anm. d. Red.); die wurden dann bildlich verglast. Aber der Dreikönigenschrein stand in der Achskapelle, also in der Kapelle, die genau in der Achse nach Osten war, und da stand er vermutlich schon 1322.
DOMRADIO.DE: Köln ist voller romanischer Kirchen. Warum wurde der Dom im gotischen Stil gebaut?
Schock-Werner: 1264 kamen die Reliquien der Heiligen Drei Könige nach Köln. Erzbischof Reinhard von Dassel hat das, was wir heute einen Public Relation-Vorgang nennen würden, sehr bekannt gemacht. Das heißt, es war klar, es kommen viele Pilger, und dafür war der alte Dom von seiner Struktur her nicht geeignet. Also baute man eine moderne Kirche mit einem großen Querhaus.
Ursprünglich war gedacht, dass der Dreikönigenschrein genau in das Kreuz zwischen Langhauschor und Querhaus kommt und dass die Pilger im Süden das Querhaus betreten würden - also heute vom Roncalliplatz aus - und einmal durch am Schrein vorbeiziehen, dann auf der Bahnhofsseite das Querhaus wieder verlassen würden. Das hat nicht geklappt, weil man nicht so weit war, aber die zu erwartenden Pilger waren der Hauptgrund für einen Neubau des Domes.
DOMRADIO.DE: Sollte er von Anfang an denn so aussehen, wie er heute aussieht?
Schock-Werner: Ja, das ist das Besondere am Kölner Dom: Dass der 1248 festgelegte Plan wirklich nahezu unverändert bis zur Fertigstellung 1880 beibehalten wurde. An den anderen allermeisten Kirchen können sie den Baufortgang an den unterschiedlichen wechselnden Stilen oder Planänderungen ablesen. In Köln ist das erstaunlicherweise nicht der Fall. Man baute bis zuallerletzt -sogar in der Spätgotik, wo es wirklich verwunderlich war- immer nach dem alten Plan des 13. Jahrhunderts.
Wir wissen nicht ganz genau, warum das so war, aber wir vermuten, dass das Domkapitel entschieden darauf pochte, dass es keine Planveränderung gab. Und deshalb ist diese Kirche hier in Köln etwas ganz Besonderes: nämlich ein einheitlicher Bau nach den Ideen des 13. Jahrhunderts, auch wenn er erst im 19. Jahrhundert fertiggestellt wurde.
DOMRADIO.DE: Warum wurde er geweiht, obwohl er noch nicht ganz fertig war?
Schock-Werner: Das tat man immer. Außerdem war der Chor ja fertig. Ich habe ja schon gesagt, der Westteil war weg. Man hatte keinen Platz mehr, um Liturgie zu feiern. Also brauchte man einen neuen Platz und weihte den schon fertigen Chor. Im Übrigen waren Altarweihen oder Teilweihen von Kirchen, ein durchaus im Mittelalter häufig gemachtes Prozedere – damit man eben schon Teile benutzen konnte und diese halbfertige Bauten sozusagen unter den Schutz Gottes gestellt wurden.
DOMRADIO.DE: Inwiefern ist es für Sie persönlich jetzt etwas Besonderes, diesen 700. Geburtstag mitzuerleben?
Schock-Werner: Jubiläen sind natürlich immer theoretische Elemente und 700 Jahre Chorweihe ist etwas, was ein bisschen auch außerhalb des Bewusstseins ist. Aber es ist ein gutes Element, um sich klar zu machen, wie alt das schon ist, was da ist und wie lange die Tradition ist. Ich sage das auch immer am Beispiel des Gero-Kreuzes, wenn ich mit Besuchern durchgehe: Sie müssen sich klarmachen, dass dieses Kreuz schon seit 1000 Jahren in dieser Kirche hängt. Und dann wird den Leuten auch die lange Tradition und das Bewusstsein dieser Tradition klar.
Das Interview führte Dagmar Peters.