Wie sieht Missbrauchsaufarbeitung in Pfarrgemeinden aus?

Das Idealbild vom guten Pfarrer

Die Konfrontation mit Missbrauch und sexualisierter Gewalt in der eigenen Pfarrgemeinde ist in der Regel sehr schmerzhaft. Die Soziologin Helga Dill hat sich in einer Missbrauchsstudie unter anderem mit diesem Aspekt befasst.

Ordensfrau mit einem Collarhemd / © Cristian Gennari (KNA)
Ordensfrau mit einem Collarhemd / © Cristian Gennari ( KNA )

KNA: Sie haben an der im letzten Jahr veröffentlichten Missbrauchsstudie des Bistums Essen mitgewirkt und in Ihrer dreijährigen Forschung auch ein Augenmerk auf Gemeindedynamiken gelegt. Wie nehmen Sie den Umgang der drei Gemeinden im Bistum Münster, Dresden-Meißen und im Münchener Erzbistum wahr?

Soziologin Helga Dill, IPP München und Malte Täubrich, Dissens, stellen das Essener Missbrauchsgutachten vor / © Andre Zelck (KNA)
Soziologin Helga Dill, IPP München und Malte Täubrich, Dissens, stellen das Essener Missbrauchsgutachten vor / © Andre Zelck ( KNA )

Helga Dill (Soziologin): In allen drei Gemeinden sind Elemente vorhanden, wie wir sie auch im Bistum Essen vorgefunden haben. Besonders nicht hinschauen zu wollen - wie in Grafing - ist ein typisches Muster. Dieses sehe ich auch bei der Gemeinde, die nach kurzer Zeit den Aufarbeitungsprozess als abgeschlossen bezeichnet. Denn das geht nur, wenn man sich vieles gar nicht erst anschaut.

KNA: Auffällig war bei der Recherche, dass es in keiner Gemeinde Aufarbeitung gab, wenn sie nicht von Betroffenen angeregt wurde.

Dill: Die Einstellung, Betroffene seien selbst verantwortlich dafür, sich zu melden, findet sich häufig. Gemeinden begreifen es in der Regel nicht als ihre Aufgabe, aktiv auf Betroffene zuzugehen, ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich zu zeigen, nach weiteren Betroffenen zu suchen. Und auch das Hochhalten positiver Erinnerungen an beliebte Pfarrer, die Missbrauch begangen haben, kennen wir gut.

KNA: Ist das denn per se ein Problem?

Dill: In unserer Studie hat sich gezeigt, dass das Idealbild vom guten Pfarrer, auf den man nichts kommen lassen will, viel an Aufarbeitung verhindert. Vor allem, dass Gemeindemitglieder auch hinsichtlich ihrer eigenen Verstrickung kritischer hinschauen. Aber bei Fragen, die Gemeindemitglieder sich selbst in Zuge einer Missbrauchsaufarbeitung stellen, geht es ja vor allem darum, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen.

KNA: Welche Fragen stellen sich Gemeindemitglieder denn vor allem?

Dill: Zum Beispiel fragen sie sich: Warum habe ich mich damals so vom Pfarrer blenden und betören lassen? Warum habe ich nichts bemerkt? Es gab - das haben wir beobachten können - oft Gerüchte und auch latentes Wissen in den Gemeinden. Wenn der Pfarrer immer mit den Jungs in die Sauna ging, zum Beispiel, haben die Leute das ja mitbekommen. Über Tratsch hinaus ist aber selten was passiert.

KNA: Und wird das bis heute verdrängt nach Ihrer Beobachtung?

Dill: Ja, denn es geht nicht selten mit latenten Schuldgefühlen einher. Und dieses hängt mit dem Ausblenden des Leids der Betroffenen oft direkt zusammen. Umso wichtiger, dass Gemeinden ihren Umgang mit diesen Menschen reflektieren. In vielen Fällen gab es Betroffene, die sich zeitnah zu Wort gemeldet haben. Etwa Eltern, die Bedenken geäußert oder Kinder, die sich jemandem anvertraut haben.

In der Regel ist darauf nichts gefolgt - oder im Gegenteil wurden Betroffene deshalb sogar ausgegrenzt oder gemobbt. Auch das ist eine Last, die Gemeinden mit sich herumtragen.

Treffen der AG Missbrauch / © Harald Oppitz (KNA)
Treffen der AG Missbrauch / © Harald Oppitz ( KNA )

KNA: Oft heißt es: Das liegt Jahrzehnte zurück - warum heute die ältere Generation damit behelligen? Die junge tickt eh anders.

Dill: Wir wissen, dass traumatische Ereignisse betroffene Gemeinschaften über mehrere Generationen hinweg belasten. Nichts und niemand garantiert, dass die öffentliche Aufmerksamkeit, die zurzeit auf sexualisierter Gewalt im Kontext der katholischen Kirche und anderen Organisationen liegt, Missbrauch verhindert. Dazu müssen Menschen intensiver auf eigene Strukturen, eigene Fälle, eigene Verhaltensweisen schauen. Und das betrifft die junge Generation genauso.

KNA: Was empfehlen Sie Gemeinden, die sich an diesen Prozess wagen?

Dill: Räume zu schaffen, in denen Gemeindemitglieder aus unterschiedlichen Funktionen und Generationen offen sprechen können. In einem geschützten Raum auch eigene Schuldgefühle ansprechen zu können, eigene Verstrickungen und Verblendungen - das ist, glaube ich, der erste Schritt für eine wirkliche Aufarbeitung in der Gemeinde.

KNA: Wo stehen die Bistümer bundesweit aus Ihrer Sicht in puncto Aufarbeitung?

Dill: Die bundesweite MHG-Studie hat vor fünf Jahren den großen Stein ins Rollen gebracht. Ihr sind viele Studien auf Bistumsebene gefolgt.

Man sieht, dass es kein Zurück gibt. Aufarbeitung ist meistens erst möglich, wenn so eine Studie veröffentlicht ist. Aber auf Gemeindeebene, bei der tatsächlichen Aufarbeitung vor Ort, ist noch ganz wenig passiert. Es gibt vereinzelt Gemeinden, die aus eigener Initiative viel bewirkt haben, die aber in der Regel relativ wenig Unterstützung durch die Institutionen bekommen haben.

Und es gibt nach wie vor eine große Dunkelziffer von Betroffenen, die gar nicht sprachfähig sind, und um die sich auch niemand kümmert. Gutachten sind wichtig, aber sie sind nur der erste Schritt.

Das Interview führte Clara Engelien.

Quelle:
KNA