DOMRADIO.DE: Nur noch rund zehn Prozent der tschechischen Bevölkerung sind Mitglied in der katholischen Kirche. Sie leben also jetzt schon in einer Minderheitensituation, mit der wir in Deutschland und Westeuropa in den kommenden Jahrzehnten konfrontiert sein werden. Sie nehmen aktuell am internationalen Renovabis-Kongress teil, bei dem es um das Thema "Umgang mit Säkularisierung und religiöser Indifferenz in Europa" geht. Welche Botschaft haben Sie dort an die Zuhörer?
Schwester Dr. Marie Pavlína Kašparová (Künstlerin und Mitglied der tschechischen Kongregation der Dominikanerinnen): Unsere Kirche wurde während des Kommunismus stark unterdrückt. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs machen wir die Erfahrung, was es bedeutet, frei zu glauben und nicht stigmatisiert zu sein. Viele sind mit der Kirche noch über unsere Kultur und unsere Traditionen verbunden, aber wir suchen immer noch nach unserer Identität. Denn viele junge und Menschen mittleren Alters haben nie die Erfahrung von Glauben und Gemeinschaft gemacht.
Unsere Diaspora-Situation hat den Vorteil, dass wir enger zusammenrücken. Aber sie birgt auch die Gefahr des Sektierertums. Ich beobachte immer wieder Gemeinden – auch mit vielen jungen Menschen –, deren Mitglieder sehr traditionell, fast fundamentalistisch sind. Das sehe ich wirklich als Problem, weil sich eigene Auslegungen von Traditionen, Glauben und Verhalten herausbilden, die sich nicht so einfach durchsetzen ließen, wenn die Gruppe größer wäre.
DOMRADIO.DE: Wie regiert die Kirche in Tschechien darauf? Versucht man, Gläubige zurückzugewinnen oder sieht man der Entwicklung schweigend zu?
Sr. Marie: Es gibt beides. Vor allem wird unsere Kirche durch Persönlichkeiten geprägt, die den Glauben vorleben und Vorbilder sind. Das kann positiv und inspirierend sein. Es kann aber auch negative Einflüsse haben, weil diese Personen einflussreich sind und Ideen verbreiten, die allgemeinen Grundsätzen von Gleichberechtigung und Respekt im Umgang mit Minderheiten widersprechen.
DOMRADIO.DE: Wie versuchen Sie persönlich, Menschen wieder für die Kirche zu gewinnen?
Sr. Marie: Indem ich authentisch bin. Die Menschen erleben, dass auch ich meine Probleme mit einigem in der katholischen Kirche habe. Es gibt Bereiche, in denen sich einfach nichts bewegt. Es gibt so viele gesellschaftliche Gruppen, die sich ausgegrenzt fühlen, beispielsweise queere Menschen, denen man das Gefühl gibt, sie würden nicht zu uns gehören.
Ich bedauere zutiefst, dass sie diese Erfahrung machen müssen. Ich habe auch keine Lösung, aber wir sollten Wege finden, wie wir alle gemeinsam und authentisch den Glauben leben und uns gegenseitig unterstützen können. Denn - es tut mir wirklich leid, das sagen zu müssen – viele Menschen fühlen sich in der Kirche nicht willkommen, weil sie sich in der Lehre oder der Praxis nicht wiederfinden. Und dann ist es wie in einer toxischen Partnerschaft: Die Menschen sehen keinen anderen Weg, sich daraus zu lösen, als Trennung.
DOMRADIO.DE: Gibt es dafür beim tschechischen Klerus ein Verständnis?
Sr. Marie: Zum Teil. Ich kenne viele tolle Priester, die das leben und die versuchen, ein Umdenken anzustoßen. Aber es gibt auch andere, die sich für die einzigen Rechtgläubigen halten und überzeugt sind, dass sie die Kirche und die Lehre vor einer Unterwanderung bewahren müssen. Ich will das nicht verurteilen, denn ich kann verstehen, dass manche Menschen Angst vor Wandel und Identitätsverlust haben.
Aber es gibt auch diejenigen, die das populistisch für sich nutzen und das kritisiere ich. Ich finde, wir sollten einander mehr zuhören, das ist ja auch der Gedanke des synodalen Prozesses.
DOMRADIO.DE: Sie sind auch Künstlerin, als "kreative Nonne" arbeiten Sie mit Farben, Licht, Fotos und digitalen Medien. Lassen Sie diese Themen auch in Ihre Kunst einfließen?
Sr. Marie: Viele meiner Kunstwerke sind biblisch inspiriert, und von meinem Glauben. Ein anderer Teil meiner Arbeit steht in Zusammenhang mit meinen Forschungstätigkeiten. Da ging es zum Beispiel an der Schnittstelle von bildender Kunst, Theologie und Kognitionswissenschaft um die Frage, wie Menschen abstrakte Vorstellungen – wie etwa das Göttliche oder den Glauben – wahrnehmen und wie Kunst das fassbar machen kann.
Ich finde das sehr spannend, weil es andere Einflüsse aufnimmt und man das Ergebnis nur bedingt beeinflussen kann. Gemeinsam erforschen wir, wie Glaube unser Leben, unsere Entscheidungen und unseren Blick auf uns und andere beeinflusst, wie wir letztlich Gott wahrnehmen. Für mich ist Kunst ein Experimentierfeld, in dem man Dinge austesten kann, die es so noch nicht gegeben hat.
DOMRADIO.DE: Sie diskutieren im Rahmen des Renovabis-Kongresses bei einem Panel über das Thema: "Zukunftsperspektiven für Kirche und christlichen Glauben in Europa". Fällt Ihre Antwort optimistisch oder eher pessimistisch aus?
Sr. Marie: In allen unseren Gesellschaften beobachten wir eine zunehmende Individualisierung und manche betrachten das als negativ. Ich bin da eher optimistisch und sehe die Chancen. Ich halte nicht viel davon, jetzt Szenarien zu entwerfen, wie es werden könnte. Es gibt so viele andere Optionen und Wege, wir sollten uns nicht begrenzen.
Die Individualisierung hat auch den Vorteil, dass wir herausfinden können, was Menschen wirklich suchen, jenseits von vorgegebenen Meinungen und Perspektiven. Und wenn es uns gelingt, diese Ideen zu bündeln und zu teilen, dann können wir die Kirche bereichern und wir werden Gaben entdecken, die wir bislang nicht genutzt haben.
Information der Redaktion: Schwester Dr. Marie Pavlína Kašparová hat einen Doktortitel in Kunst und Theologie von der Anglia Ruskin University, ist Künstlerin und Theologin und gehört seit 2006 der tschechischen Kongregation der Dominikanerinnen an. Dr. Kašparová war Studiendirektorin am Cambridge Centre for Christianity Worldwide, wo sie über Spiritualität und Kunst lehrt (2023-2024). Derzeit ist sie Studiendirektorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Faraday Institute for Science and Religion in Cambridge, wo sie sich aktiv an akademischen Diskussionen beteiligt und interdisziplinäre Verbindungen fördert.