Bereits im Vorfeld der letzten Wahlen warben einige christliche Glaubensgemeinschaften im Internet dafür, nicht für Lukaschenko zu stimmen – auch nicht aus Gruppenzwang oder Druck vom Arbeitgeber. Mit Slogans wie "Katholiken fälschen nicht" oder "Orthodoxe gegen Fälschung, Erniedrigung der Person und Unterdrückung" ermutigten sie die Wahlhelfer, die Ergebnisse korrekt zu dokumentieren.
An den Protesten im August 2020 nahmen auch Priester teil. "Gläubige organisierten Prozessionen durch die Hauptstadt mit Kirchenfahnen, Ikonen und Bibeln", erinnert sich der suspendierte belarussisch-orthodoxe Priester aus Minsk Alexander Schramko. "Und wir trafen uns mit Christen verschiedener Konfessionen und hielten jeden Tag Gebete ab."
Einmischung der Kirchen in Politik vom Regime unerwünscht
Die Reaktion Lukaschenkos ließ nicht lange auf sich warten: Wut, Irritation, Drohungen. Insbesondere von der orthodoxen Kirche hatte man die Unterstützung der "Provokationen" nicht erwartet. Sie galt stets als regierungstreu und angepasst. Der umstrittene Wahlsieger mahnte unlängst: Politik sei in Kirchen fehl am Platz. Darin solle nur gebetet werden. Der Staat werde nicht mit Gleichgültigkeit zusehen.
Selbst die Leitungsebene der Kirchen bekam seinen Unmut zu spüren. Der orthodoxe Metropolit von Minsk, Pawel Ponomarjow, wurde abgesetzt, nachdem er verprügelte Demonstranten im Krankenhaus besucht hatte. Der römisch-katholische Erzbischof von Minsk, Tadeusz Kondrusiewicz, forderte ein Ende der Polizeigewalt. Nach seinem Besuch im Ausland durfte er monatelang nicht mehr einreisen, angeblich wegen Problemen mit seinem Pass.
Oppositionelle flüchten ins Exil
Wie viele Oppositionelle hat auch Priester Alexander Schramko das Land mittlerweile verlassen: "Gar nicht so sehr aus Angst vor Repressionen, sondern wegen der beklemmenden Atmosphäre. Ich spürte, dass es dort keine Freiheit geben würde. Selbst wenn man mich zunächst in Ruhe lässt – ich hätte schweigen müssen. Aber ich bin von Natur aus ein Freigeist. Ich kann nicht damit leben, wenn man mir den Mund verbietet."

Mit "in Ruhe lassen" meint Schramko die Einschüchterungsversuche der Geheimpolizei. Seit 2020 haben diese massiv zugenommen und richten sich auch gegen Religionsvertreter. Von der Aufbruchsstimmung vor rund fünf Jahren ist kaum noch etwas zu spüren. "Alles wird überwacht. Die Kirche ist eingesperrt wie in einem Gefängnis", ergänzt der 67-Jährige.
Religionsfreiheit in der Verfassung verankert
Auf dem Papier garantiert die belarussische Verfassung Religionsfreiheit. In der Praxis aber werden religiöse Aktivitäten genau reguliert. Laut dem "Gesetz über Gewissensfreiheit" müssen alle Religionsorganisationen registriert sein. Selbst die Gebäude, in denen sich die Mitglieder treffen, werden staatlich erfasst, erklärt die orthodoxe Theologin, Politologin und Menschenrechtsanwältin Natallia Vasilevich: "Gebetstreffen in Privatwohnungen oder Taufen im Fluss können strafrechtliche Konsequenzen haben bis hin zur Haftstrafe, wenn Organisationen nicht registriert sind."

Vor einem Jahr wurde das Religionsgesetz deutlich verschärft. In Folge mussten sich alle religiösen Organisationen neu registrieren. Ein kompliziertes, intransparentes Verfahren, das für viele besonders kleine Gemeinden kaum zu stemmen ist. Zudem wurde finanzielle Unterstützung aus dem Ausland blockiert und kirchliche Angebote für Kinder unter besondere Beobachtung gestellt. Darüber, dass die Inhalte der "Ideologie der traditionellen Werte des Staates" entsprechen, müssen die Gemeinden nun jedes Jahr Rechenschaft ablegen.
Missionarische Aktivitäten sind untersagt
Die orthodoxe Theologin Natallia Vasilevich sieht vor allem in dem Verbot von Missionierung eine starke Einschränkung: "Jeder, der über seinen Glauben spricht oder andere zum Gottesdienst einlädt, der ein Lobpreislied in der Öffentlichkeit singt oder im Internet für seine Kirche wirbt, braucht eine spezielle Genehmigung. All das fällt schon unter 'missionarische Tätigkeit'."
Die Arbeitsgruppe "Christian Vision" dokumentiert Verletzungen der Glaubensfreiheit in Form eines Monitorings. Bislang seien allein 86 hauptamtliche Priester verschiedener Konfessionen Opfer von Repressionen geworden. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

"Meistens läuft es so ab, dass der Priester vor ein ideologisches Gremium oder zur Miliz gebracht wird und dann heißt es: Handy abgeben. Die Mitarbeiter durchsuchen Chat-Verläufe, Fotos und Links und gucken, welchen Social-Media-Kanälen man folgt. Von Interesse ist alles, was auf die Verbreitung von sogenanntem 'extremistischen Material' hinweist. Dann wird ein Protokoll erstellt und die Person kommt über Nacht in Arrest", berichtet Natallia Vasilevich, die sich bei "Christian Vision" engagiert. Konstruierte Vorwürfe, Demütigungen und Gewalt, Zwang zu falschen Geständnissen vor laufender Kamera seien keine Seltenheit.
Gemeinschaftsstrukturen als potentielle Gefahr
Im Vergleich zu anderen post-sowjetischen Ländern ist Belarus allerdings nicht besonders religiös. Die Mehrheit der Bevölkerung bezeichnet sich als orthodox, aber die orthodoxe Kirche hat eher einen kulturellen Stellenwert und ist weniger einflussreich als in Ländern wie Russland oder der Ukraine. Warum also hat es das autoritäre Regime ausgerechnet auf die Kirchen abgesehen?
Die Expertin sieht dafür zwei Gründe: "Zum einen hat man viele der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen verboten oder aufgelöst: Kultur- und Sportvereine, NGOs, Gewerkschaften... Aber Kirchen kann man nicht einfach schließen. Deswegen sind sie eines der Hauptziele, wenn es darum geht, Nicht-Loyale auf Linie zu bringen. Zum anderen haben Menschen, die ihren Glauben ernst nehmen, moralische Leitlinien. Sie können Ungerechtigkeit schlechter hinnehmen als andere. Angetrieben von ihrem Glauben würden manche von ihnen bis ans Äußerste gehen. Für die Regierung sind sie deshalb ein großes Risiko."
Verfolgung katholischer Geistlicher und das Schweigen des Vatikans
Ein aktuelles Beispiel für die Unterdrückung religiöser Freiheit ist die Verurteilung des katholischen Priesters Henrykh Akalatovich. Im Dezember ist er wegen Hochverrats zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte in seinen Predigten die Regierung kritisiert. Mehrere weitere katholische Geistliche sitzen aus fadenscheinigen Gründen im Gefängnis. Der Heilige Stuhl hat sich bislang öffentlich nicht gegen das autoritäre Regime Lukaschenkos gestellt. In diesem Jahr soll im Vatikan sogar eine eigene belarussische Botschaft eröffnen.
"Lukaschenko will den diplomatischen Kanal für sich nutzen. Er sieht im Vatikan einen wichtigen Akteur. Am Beispiel des Ukraine-Kriegs kann er sehen, dass weltliche Führer die Worte von Papst Franziskus wahrnehmen und dass dadurch politische und humanitäre Vermittlung zustande kommt – zum Beispiel in Form von Gefangenenaustauschen. Außerdem zeigt sich der Vatikan dialogbereit. Da es sonst niemanden gibt, der mit ihm redet, nimmt sich Lukaschenko, was er kriegen kann", so Vasilevich.
Präsidentschaftswahlen am 26. Januar
An diesem Sonntag wird in Belarus wieder gewählt – ein halbes Jahr früher als geplant. Machthaber Lukaschenko wird es nun darum gehen, sein Trauma von 2020 zu überwinden und seine Legitimität wiederherzustellen. Denn viele westliche Staaten wie die USA und die Europäische Union erkennen wegen der Wahlfälschung nicht ihn, sondern die damalige Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja als Staatsführerin an. Dass es diesmal erneut zu größeren Protesten kommt, gilt als unwahrscheinlich. Echte Gegenkandidaten gibt es nicht. Viele kritische Stimmen, auch aus den Reihen der Kirchen, sind ins Ausland abgewandert oder sitzen in Haft.