DOMRADIO.DE: Nur eine Minute und 49 Sekunden hat der Anschlag vor fünf Jahren gedauert. Wie ist das Leben der Überlebenden der Satirezeitung Charlie Hebdo seitdem weitergegangen?
Frank Überall (Politologe, Journalist, Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes): Es ist eine so unglaublich kurze Zeitspanne, aber sie war im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch. Es sind Menschen gestorben, Kolleginnen und Kollegen sind gestorben, das ist natürlich für eine Redaktion unglaublich schwierig. Es waren die bekanntesten und besten Satiriker und Zeichner der Republik Frankreich. Auf sie zu verzichten, ist alleine schon unglaublich schwierig, aber vor allem auch zu wissen, dass sie wegen ihrer Arbeit umgebracht wurden. Sie haben nichts anderes gemacht als schlicht und ergreifend ihre Arbeit.
Und diese Arbeit dann fortzusetzen, war natürlich ein riesengroßer Schritt für die Kolleginnen und Kollegen. Sie haben eine weltweite Welle der Solidarität erlebt. Auch hier in Deutschland gab es ja zeitweise eine deutschsprachige Ausgabe von Charlie Hebdo. Es waren Millionenauflagen, aber das ist irgendwann auch wieder abgeflaut. Dann musste man sehen, dass man Geld verdient. Aber trotzdem war die Angst nicht weg. Die Solidarität war in weiten Teilen weg, die Angst aber nicht, weil die Bedrohung auch nicht weg war.
DOMRADIO.DE: Stand es denn jemals zur Debatte, an dieser Stelle aufzuhören und Schluss zu machen?
Überall: Natürlich wurde das debattiert. Aber man hat ganz bewusst gesagt, man braucht uns. Dieser Staat braucht uns, diese Gesellschaft braucht uns. Charlie Hebdo hat in Frankreich überhaupt eine ganz besondere Rolle. Auch politische Satire in der Öffentlichkeit hat eine größere Rolle, als wir das hierzulande kennen. Da gegen den Strich zu bürsten, aktuelle Entwicklungen wirklich sehr frech aufzunehmen, ist für uns als Rheinländerinnen und Rheinländer etwas nachvollziehbar, wenn man sich unsere Karnevalswagen anguckt. Da haben wir den größeren Bezug zu. Die gedruckte politische Satire ist bei uns aber nicht ganz so bekannt. In Frankreich hat das schon ein ganz anderen Stellenwert.
DOMRADIO.DE: Bemerken Sie denn eine Veränderung in der Berichterstattung? Hat dieses Attentat etwas verändert?
Überall: Ja, natürlich. Man kann eigentlich keine zugespitzte, bissige, bösartige politische Satire mehr machen. All diese Bestandteile sind natürlich Wesensteil der Satire, ohne dass man auch daran denkt, dass das gefährlich werden könnte. Das hat man sich früher nicht vorstellen können. Natürlich haben sich Menschen aufgeregt, man wurde mal verklagt. Man konnte möglicherweise Pleite gehen, wenn man zuviel Geld zahlen musste, etwas verboten wurde und es dann auch noch Schadenersatzansprüche gab.
Aber dass man tatsächlich um sein Leben fürchten muss und die Familie auch um das Leben der Menschen fürchten muss, die im Bereich der Satire oder im Bereich des Journalismus berichten und kommentieren, ist eine neue Entwicklung. Es ist eine Entwicklung, die wir mittlerweile sogar auch in Ansätzen in Deutschland kennen.
DOMRADIO.DE: Ein ganz aktuelles Beispiel für so einen Angriff auf Satire gibt es im Moment in Köln. Aufhänger ist das sogenannte "Umweltsau"-Video des WDR. Da singt ein Kinderchor über eine Oma, die die Umwelt verschmutzt. "Meine Oma ist eine alte Umweltsau" heißt es im Refrain. Als die Empörung darüber begann, löschte der WDR dieses Video. Intendant Tom Buhrow hat sich ganz offiziell davon distanziert. Was sagen Sie zu solchen Beispielen? Macht der Intendant das aus Ihrer Sicht richtig?
Überall: Hätte sich der Intendant von der Löschung distanziert, hätte er es richtig gemacht. Er hat aber das Gegenteil getan, nämlich die Löschung gerechtfertigt und sich vom Inhalt dieser Satire distanziert. Das halte ich für ein riesengroßes Problem, dass er sich entschuldigt.
Die besondere Situation war auch noch, dass er in den Weihnachtstagen bei seinem Vater im Krankenhaus am Bett gesagt hat, alte Menschen sind keine Umweltsäue. Er persönlich empfindet das als beleidigend. Das ist sein gutes Recht als Mensch und an der Stelle auch als Intendant. Aber mit der Entscheidung, das Video zu depublizieren, ist er zum einen aus meiner Sicht den Kolleginnen und Kollegen in den Rücken gefallen, die es in der Redaktion vorbereitet und verantwortet haben. Es ist ja im November das erste Mal ausgestrahlt worden. Kurz vor Weihnachten kommt dieser Streit dann hoch.
Zum anderen ist es natürlich, ehrlich gesagt, nicht besonders schlau, im Netz etwas zu depublizieren. Dadurch beraubt man es des Kontextes, wo klar gemarkert war, dass es sich um Satire handelt. Es verbreitet sich ohne diesen Kontext weiter. Viele sprechen jetzt nur noch darüber, indem sie einzelne Sätze dieses Liedes hören beziehungsweise vorgelesen bekommen.
Wenn ich jetzt vorgelesen bekomme: "Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad", habe ich auch Bilder vor Augen, bei denen ich mir denke, nein, das möchte ich eigentlich auch nicht. Das ist eigentlich beleidigend. Wer würde denn so etwas tun? Wer würde denn so etwas den Tieren antun? Wenn man es ohne den Kontext diskutiert, wird es gefährlich. Genau in die Falle ist der Westdeutsche Rundfunk aus meiner Sicht getappt.
DOMRADIO.DE: Freie Autoren beschweren sich jetzt. Es gibt eine Unterschriftenliste. Viele haben unterschrieben und sagen, es könne nicht sein, dass Satire nicht mehr geht. Darf Satire denn wirklich alles?
Überall: Satire darf nahezu alles. Ich bin ja selbst auch freier Mitarbeiter beim WDR und habe am Samstag auf der WDR-Demonstration gesprochen. Ich habe meiner Verzweiflung oder meiner Verunsicherung Ausdruck gegeben, ob jetzt jeder Kommentar, jede Glosse oder jede Satire ganz besonders aufs Korn genommen wird und man möglicherweise damit rechnen muss – sobald sie abgenommen und gesendet ist – dass der Intendant sich später wieder distanziert und man vielleicht auch um seinen Auftraggeber fürchten muss.
Ich halte das für eine ganz schwierige Entwicklung. Wir müssen uns mal anschauen, wie Charlie Hebdo eigentlich zustande gekommen ist. Da geht es in erster Linie um geschürten Hass. Ich konnte mir das damals nicht vorstellen. Ich habe nicht verstanden, wie man aufgrund der Verletzung religiöser Gefühle Terror und Morde anwenden kann.
Jetzt beginnen wir in Deutschland langsam auch zu merken, wie man Hass im Netz organisieren kann. Das ist bei der "Umweltsau"-Satire passiert und insofern müssen wir das im Auge behalten. Wir dürfen auf der anderen Seite bei Grundrechten, wie der Meinungs- und Kunstfreiheit nicht einknicken. Das ist ein ganz schwieriger Grad, den wir aushalten müssen und wo wir uns als Journalistinnen und Journalisten auch nicht einschüchtern lassen dürfen.
Das Interview führte Verena Tröster.