DOMRADIO.DE: Nachdem das Bundesverfassungsgericht vor knapp einem Jahr das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung aufgehoben hatte, ist die Debatte um selbstbestimmtes Sterben neu entflammt. Nun hat sich auch eine Gruppe ranghoher protestantischer Theologen dafür ausgesprochen, "assisitierte professionelle Selbsttötung" zu ermöglichen. Jede organisierte Hilfe zum Suizid, die dazu beiträgt, dass die Selbsttötung zur Option neben anderen wird, lehnt die Evangelische Kirche in Deutschland ausdrücklich ab. Das ist die Position der EKD, die auch Sie vertreten. Warum?
Frank Otfried July (Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg): Wir haben immer deutlich gemacht, dass das Dasein, der Schutz für die Menschen, die Pflege, aber auch die Begleitung bis zum letzten Atemzug unserem Auftrag entspricht. Menschen, die in die Diakonie und Caritas kommen, sollen wissen, dass hier ein Raum ist, wo sie leben und auch sterben können. Aber immer als von Gott geliebte Menschen, die ihre eigene Würde haben. Das Leben empfangen wir von Gott und ich bin der Meinung, dass wir auch den Tod von Gott empfangen.
DOMRADIO.DE: Die Richter haben mit ihrem Urteil die Selbstbestimmung des Einzelnen bis in den Tod hinein über das Prinzip Lebensschutz gestellt. Warum ist das in Ihren Augen falsch?
July: Ich glaube, dass diese Abwägung, die meiner Meinung nach dazugehört, zwischen Lebensschutz, Fürsorge für den Menschen und Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen aus der Balance gebracht wurde durch das Urteil. Ich habe damals schon gesagt, dass ich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als einen Paradigmenwechsel empfand, der sehr weit gegangen ist. Selbstbestimmungsrecht und Freiheit sind hohe Güter, selbstverständlich auch aus der Sicht evangelischer Ethik. Sie sollten aber zusammen mit anderen Gütern gesehen werden.
DOMRADIO.DE: Die Argumentation der evangelischen Theologen, die sich jetzt geäußert haben, ist wie folgt: "Wenn wir als Kirchen den Suizid billigen, keine Begleitung anbieten, dann müssen die Menschen sich in die Hände anderer begeben, die vielleicht gerade nicht im Sinne von Lebensschutz handeln. Und nur wenn Suizid-Willige sich in ihren Ängsten ernst genommen fühlten, seien sie dann vielleicht bereit, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken." Können Sie dem folgen?
July: Bei dieser Argumentation habe ich insofern Verständnis, dass ich weiß, dass sich viele diakonisch oder in Caritas-Einrichtungen wahrscheinlich die Frage stellen müssen, wie sie eigentlich mit Menschen umgehen, die in deren Häusern leben und dann den Wunsch nach einem Suizid haben. Es gibt die Haltung, dass die Menschen dann ihren Platz gekündigt bekommen und diesen Wunsche woanders verhandeln sollen.
Dass wir als Diakonie mit diesem Wunsch umgehen müssen, aber eigentlich in der Beratung verstärken müssen, dass wir die Ängste nehmen und eine liebevoll pflegerische Begleitatmosphäre schaffen, wo auch über Tod und Leben gesprochen werden kann, ist eine Herausforderung. Da bin ich der Meinung derer, die diesen Artikel geschrieben haben. Auch Herr Ulrich Lilie von der Diakonie hat da mitgewirkt. Insofern ist die Fragestellung richtig, aber das Ergebnis halte ich für falsch. Ich glaube, dass Heime verlässliche Lebensbegleiter bis zum Tod sein müssen. Ich kann mir auch keine Pflegekräfte vorstellen, die dann Suizid assistieren.
DOMRADIO.DE: Sie haben gesagt, dass das Urteil der Verfassungsrichter für Sie ein Paradigmenwechsel war. Ist das jetzt in Ihren Augen eine Art Dammbruch, wenn sich dem auch kirchliche Stimmen anschließen?
July: Dammbruch ist vielleicht etwas dramatisch ausgedrückt. Es gab schon immer evangelische oder auch katholische Theologen, die die Frage des Freitods immer wieder diskutiert haben. Das gab's bei uns auch. Aber mit diesem Artikel, an dem mehrere beteiligt sind, wird eine lange, starke Option der evangelischen Kirche bezweifelt und neue Wege sollen gesucht werden. Das ist schon ein bemerkenswerter Einschnitt.
Das Interview führte Hilde Regeniter.