Deutschlands Notfall- und Intensivmediziner wollen gewappnet sein für die schwerste aller Entscheidungen. Sieben medizinische Fachgesellschaften legten am Donnerstag in Berlin ethische Handlungsempfehlungen für den Fall vor, dass nicht mehr ausreichend Intensivbetten in Deutschland zur Verfügung stehen oder Beatmungsgeräte fehlen. Welche Patienten sollen im Fall der Fälle intensivmedizinisch behandelt werden - und welche können es dann nicht mehr?
"Noch ist es nicht so weit", betonte Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Aber es sei erschütternd gewesen zu sehen, unter welchem Druck Kollegen in anderen Ländern bereits Entscheidungen dieses Ausmaßes hätten fällen müssen, ohne irgendeine Orientierung zu haben, berichtete der Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. "Die Kollegen in Italien und Spanien sind jetzt schon schwer traumatisiert. Das geht an niemandem spurlos vorbei. Daher ein solcher Kriterienkatalog auf jeden Fall eine Stütze sein!"
"Ein großer Kraftakt"
Zehn Tage hat laut Janssens die Gruppe von 14 Autoren, darunter Fachvertreter aus Notfall- und Intensivmedizin, Medizinethik, Recht und weiteren Disziplinen, an den Handlungsempfehlungen geschrieben. "Ein großer Kraftakt, den ich so in meiner Laufbahn auch noch nie erlebt habe", erklärte der Mediziner. "Wir wollen am Ende dieses schwierigen, schmerzlichen Prozesses sagen können: Es war eine fundierte, gerechte Entscheidung." Janssens forderte die Ärzte auf, sich an der weiteren Diskussion über die Empfehlungen zu beteiligen.
Ärzte und Sanitäter kennen solche schwierigen ethischen Entscheidungen aus der Katastrophenmedizin oder nach großen Terroranschlägen, wenn mit Hilfe einer sogenannten Triage über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden muss.
Entscheidung nicht nach Bauchgefühl
Janssens sagte dazu, die Entscheidungen müssten medizinisch begründet und gerecht sein. Transparenz sei entscheidend, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Auch dürften Ärzte nicht nach Bauchgefühl entscheiden.
Die Empfehlungen legen fest, dass die medizinische Diagnose und der Patientenwille für die Weiterbehandlung entscheidend seien. Ausdrücklich wird betont, dass die Priorisierungen nicht in der Absicht erfolgten, Menschen oder Menschenleben zu bewerten. Es gehe darum, mit den (begrenzten) Ressourcen möglichst vielen Patienten eine Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen.
"Entscheidung nach Alter oder sozialen Kriterien nicht zulässig"
Als Kriterium soll die Erfolgsaussicht gelten, also die Wahrscheinlichkeit, ob der Patient die Intensivbehandlung überleben wird. "Es ist nicht zulässig, nach dem kalendarischen Alter oder nach sozialen Kriterien zu entscheiden", betonte Janssens. In Deutschland werde 80-Jährigen nicht von vornherein die Behandlungsmöglichkeit verweigert.
Eine Intensivtherapie sei dann nicht angezeigt, wenn der Sterbeprozess unaufhaltsam begonnen habe, wenn die Therapie aussichtslos sei oder wenn das Überleben nur bei dauerhaftem Aufenthalt auf der Intensivstation gesichert werden könne, heißt es.
Bundesweites Register für Intensivbetten
Vor der Bundespressekonferenz betonte Janssens am Donnerstag, alle Kliniken in Deutschland hätten in den vergangenen Wochen Kapazitäten für intensivmedizinische Behandlungen von Corona-Patienten freigeschaufelt. Die Zahl der Intensivbetten in Deutschland wird auf 28.000 geschätzt.
Stolz zeigte sich der Mediziner darüber, dass die DIVI in den vergangenen Wochen ein bundesweites Register für Intensivstationen aufgebaut habe - ein weltweit einmaliges Projekt. Darin können Krankenhäuser auf freiwilliger Basis angeben, ob sie noch Kapazitäten auf ihren Intensivstationen freihaben und wieviele Corona-Patienten sie behandeln. Auf diese Weise könnten sich die Kliniken bei regional unterschiedlichen Erkrankungsraten aushelfen.
Bislang haben laut Janssen 670 von 1.160 Kliniken mit Intensivstationen ihre Daten eingespeist - das Ziel sind 100 Prozent. Das Ergebnis: Derzeit verfügen allein die beteiligten Krankenhäuser über mehr als 5.400 freie Intensivbetten. "Zum jetzigen Zeitpunkt sind wir gut gerüstet", betonte der Intensivmediziner.