DOMRADIO.DE: Warum sind es die Kinder, die in diesen Zeiten besonders gefährdet sind? Wer fehlt da?
Oliver Vogt (Leiter des Instituts für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt): Den Kindern fehlen die Personen, die sie im normalen Leben täglich sehen. Das können Mitarbeiter in Schulen, offenen Ganztagsschulen, Jugendverbänden oder in den offenen Jugendeinrichtungen sein.
Die haben jeden Tag mit den Kindern zu tun und sind sehr gut darauf ausgebildet, zu erkennen, wenn es Kinder nicht gut geht. Und diese Kontakte sind eben durch die jetzige Situation auf ein Minimum reduziert, beziehungsweise sie fallen komplett weg. Das führt dazu, dass Kinder weniger im Blick sind, als das in normalen Zeiten der Fall ist.
DOMRADIO.DE: In Ihrer Erklärung des Instituts für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt heißt es, dass auch die Mitarbeiterinnen in der Präventionsarbeit, in der katholischen Kirche und bei vielen anderen Trägern derzeit ihre Aufgaben nur sehr eingeschränkt wahrnehmen können. Wo sind die denn sonst noch unterwegs?
Vogt: Die sind eben in den Einrichtungen. Die katholische Kirche, aber auch viele andere Träger, haben Menschen speziell zu Kinderschutzfachkräften und Fachkräften für Prävention qualifiziert, die einfach nochmal einen anderen Blick auch auf Kinder und Jugendliche haben.
Und die sind eben sonst auch in den Einrichtungen, in den Angeboten, in den Kirchengemeinden, in den Schulen oder wo auch immer unterwegs. Das fällt natürlich jetzt auch weg, sodass auch diese speziell qualifizierten und ausgebildeten Menschen nicht den direkten, täglichen Kontakt mit den Kindern haben.
DOMRADIO.DE: Gibt es da Ausweichmöglichkeiten? Gibt es Initiativen, die Hausbesuche machen? Das geht ja bestimmt momentan auch nicht, oder?
Vogt: Es geht. Natürlich gibt es Hausbesuche. Gerade die Jugendämter, die Familien betreuen, die in schwierigen familiären Verhältnissen leben, machen natürlich Hausbesuche. Das ist auch alles nur eingeschränkt möglich. Im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit sind Hausbesuche eigentlich gar nicht möglich.
Es gibt viele Einrichtungen, die momentan versuchen, auf Onlineangebote umzustellen, um überhaupt einen Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen zu haben, die sie sonst mit ihren Angeboten erreichen. Aber das ist natürlich alles nicht vergleichbar mit dem persönlichen Kontakt, mit dem persönlichen Gespräch im Rahmen der täglichen Arbeit in einer Einrichtung.
Es laufen ganz viele Bemühungen, aber man muss einfach sagen: Viele Kinder sitzen allein oder mit Geschwistern in der häuslichen Umgebung. Und es gibt erst mal keinen, der von außen mitbekommt, wenn es diesen Kindern nicht gut geht.
DOMRADIO.DE: Was kann man da machen und wer kann da helfen?
Vogt: Ich denke, es ist so, wie es in der Corona-Krise insgesamt der Fall ist: Wir alle können helfen. Wir können alle aufmerksam sein. Nachbarn und Freunde, die irgendwas mitkriegen, können sensibel sein und hingucken. Und wenn ich das Gefühl habe, es geht einem Kind oder einem Jugendlichen nicht gut, dann gibt es spezielle Angebote.
Dann kann ich mich beim Jugendamt oder bei speziellen Beratungsstellen melden und einfach sagen: "Ich habe da ein schlechtes Gefühl, was können wir denn jetzt tun?" Es geht darum, nicht wegzuschauen, sondern auch in der Zeit hinzuschauen und zu gucken, wie es den Kindern geht.
DOMRADIO.DE: Das sind ja Sachen, mit denen sich Menschen oftmals auch schwertun. Man will sich ja nicht in die Familienangelegenheiten der Nachbarn einmischen. Eigentlich ist das immer eine gute Idee. Wenn man einen begründeten Verdacht hat, ist es jetzt nochmal notwendiger, Bescheid zu sagen, als sowieso schon?
Vogt: Genau wie Sie sagen: Es ist natürlich immer notwendig, genau hinzugucken. Ja, es ist schwierig. Man hat Angst, etwas falsch zu machen, sich in Dinge einzumischen. Aber es ist jetzt nochmal viel notwendiger, weil jetzt durch diese Isolation und das Kontaktverbot natürlich noch viel weniger Kontakte da sind. Und deswegen ist es umso wichtiger, jetzt hinzuschauen, jetzt genau zu gucken. Es ist wirklich besser, sich einmal zu viel als einmal zu wenig beraten zu lassen.
DOMRADIO.DE: Es gibt eine bedrohliche Statistik, die besagt, dass im Jahr 2019 die Kriminalität zwar insgesamt gesunken ist, aber die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie um 65 Prozent angestiegen ist. Inwieweit könnten Verbrecher diesbezüglich von der Corona-Krise profitieren?
Vogt: Es ist ja so, dass auch der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung auf dieses Problem hingewiesen hat. Und er hat das sehr deutlich formuliert. Er hat gesagt: "Die Kinder sind jetzt zuhause schutzlos den Menschen ausgeliefert, die ein Interesse an solchen Dingen haben."
Die Kinder haben keine Möglichkeit, zu fliehen und aus dem Haus zu kommen. Und natürlich besteht die ganz große Gefahr, dass Menschen, die so unterwegs sind, diese Situation ausnutzen.
DOMRADIO.DE: Was können Sie mit Ihrem Institut für Prävention und Aufarbeitung in so einer Situation machen? Können Sie irgendetwas tun?
Vogt: Wir sind natürlich auch sehr eingeschränkt. Wir können hinweisen, wie wir es jetzt getan haben, und diesen Aufruf und die Bitte, hinzuschauen, verbreiten. Das machen nicht nur wir, das machen viele Facheinrichtungen im Moment.
Aber ansonsten sind wir natürlich als bundesweit agierendes Institut im Moment auch sehr eingeschränkt. Weil wir natürlich auch an das Kontaktverbot - das auch richtig ist - gebunden sind. Wir versuchen, ansprechbar zu sein, wenn es Probleme gibt. Wir beraten natürlich auch, wobei wir keine klassische Beratungseinrichtung sind, wie das andere Fachdienste sind.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.