DOMRADIO.DE: Große Veranstaltungen werden abgesagt aufgrund der Corona-Krise. Das Wetter im Herbst lässt nur bedingt Veranstaltung im Freien zu. Was heißt das für die Gedenktage in diesem Herbst?
André Kuper (NRW-Landtagspräsident): Zum ersten Mal in der Geschichte erleben wir ja, dass wir solche Gedenktage nicht wie üblich durchführen und begehen können. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht trotzdem diese Gedenktage in einem anderen Format begehen können, als es bisher üblich war. Zum Beispiel: jede und jeder von uns kann die Gräber der Verstorbenen besuchen. Wir können alle auch die Erinnerungsorte in unserer Heimat besuchen, beispielsweise da, wo die Synagogen früher gestanden haben. Wir können aber auch Briefe schreiben oder Nachrichten, um anderen einfach deutlich zu zeigen: Ich denke an diesem Tag besonders an dich, auch wenn wir uns jetzt nicht sehen können.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet Ihnen das Totengedenken persönlich?
Kuper: Mir persönlich ist es sehr wichtig. Bei uns, in meiner Familie, ist es auch wichtig, tatsächlich die Gräber der Toten zu besuchen. Von daher finde ich das sehr wichtig.
DOMRADIO.DE: Wie ist das mit den anderen großen Gedenktagen, die für unsere Geschichte eine enorme Bedeutung haben? Was heißt das z.B. für den 9. November, den Gedenktag der Reichspogromnacht?
Kuper: Dafür werden wir neue Formate finden müssen. Viele dieser großen Veranstaltungen sind ja abgesagt, und in Innenräumen ist die Durchführung dieser Formate natürlich auch besonders schwierig. Aber nichtsdestotrotz: Wir, zumindest im Landtag, haben uns entschieden, diese Tage zu begehen, suchen neue Formate, suchen beispielsweise Videoformate, mit denen wir auf die Bürgerinnen und Bürger zugehen. Wir legen diese Kränze dann trotzdem nieder, im Einzelfall. Und wir als Landtag selber führen verschiedene Dinge durch, die wir durchführen können. Zum Beispiel Zeitzeugengespräche, oder mit Blick auf die jüdische Gemeinde führen wir zwei Ausstellungen hier im Landtag durch. Eine Ausstellung "Du Jude - alltäglicher Antisemitismus in Deutschland" oder eine zweite Ausstellung auch: "ich wäre an eurer Stelle sehr, sehr vorsichtig". Aber wir führen auch Veranstaltungen durch zum bevorstehenden Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland".
DOMRADIO.DE: Wie kann dann der Bürger in Nordrhein-Westfalen daran teilnehmen? Sie sprechen von Ausstellungen, Sie sprechen auch von den Gesprächen mit Zeitzeugen. Wie kann ich, wenn ich in Köln, in Bonn oder in Aachen bin, daran teilnehmen?
Kuper: Es gibt zum einen Teil zumeist digitale Übertragungen, digitale Formate. Auf der anderen Seite ist es so, dass wir trotz der Corona-Pandemie ein Stück weit in den Regelbetrieb wieder übergeben wollen. Es ist kein Normalbetrieb, aber beispielsweise samstags und sonntags haben wir den Landtag hier geöffnet für Besucherinnen und Besucher. Es gibt etwas strengere Regeln: Wir bilden dort Neunergruppen. Wir müssen mit Mund-Nasen-Schutz hinein. Wir sind unter Begleitung. Aber so ist es beispielsweise möglich, samstags und sonntags auch hier in Düsseldorf im Landtag dann tatsächlich diese Ausstellungen zu besuchen. Alle anderen Formate müssen leider coronabedingt in einem kleineren Format stattfinden. Aber wir bemühen uns darum weitgehend, diese Dinge dann zu übertragen, sodass man in den unterschiedlichen Medienformen daran teilnehmen und teilhaben kann.
DOMRADIO.DE: Sie sagen: Wir dürfen das Erinnern nicht vergessen. Sehen Sie denn da eine Gefahr? Oder: Was passiert, wenn wir das Erinnern vergessen?
Kuper: Ich glaube, es ist eine Gefahr, dass das Erinnern vergessen wird. Ich mache mal einen parallelen Vergleich mit der Demokratie: wir leben jetzt 75 Jahre in einer Zeit der Demokratie und des Friedens. Und ich habe an der einen oder anderen Stelle immer wieder den Eindruck, dass das als selbstverständlich, vielleicht sogar zu selbstverständlich hingenommen wird. Und gerade mit Blick auf das Ende des Zweiten Weltkrieges, also auf den Krieg, die Kriegsfolgen, das Grauen des Krieges, ist es so, dass die Generation, die das hautnah erlebt hat, in den Familien zunehmend am aussterben ist, aber auch für uns, in der Erinnerungskultur, in der Erinnerungsarbeit. Wir haben sehr viele Zeitzeugen gehabt, die bereit waren, in die Schulen hinein zu gehen, die aber leider jetzt zunehmend versterben. Deshalb ist die Erinnerungskultur an der Stelle sehr wichtig, und deshalb brauchen wir auch an der ein oder anderen Stelle noch weitere Gedenkstätten, die in einer pädagogisch, didaktisch, modernen und ansprechenden Form - auch in einer digital guten Form - insbesondere den jungen Menschen in unserem Land deutlich machen: Wir werden uns mehr denn je für Demokratie engagieren müssen, und das ist gleichzeitig der richtige Weg und die richtige Möglichkeit, auch dafür zu sorgen, dass wir weiterhin in Frieden und Freiheit leben können.
DOMRADIO.DE: Sie haben das Stichwort Demokratie erwähnt. Was bedeutet das Erinnern auch für eine stabile Demokratie?
Kuper: Das Erinnern ist für eine stabile Demokratie sehr wichtig. Wir haben auch in der Bundesrepublik zunehmenden Antisemitismus. Erinnern wir uns wieder an den Anschlag, der in Hamburg gerade gewesen ist. Antisemitismus gibt es im Alltagsgeschehen leider in einer zunehmenden Form. Von daher ist es extrem wichtig, dass wir hier an der Stelle gemeinsam - nicht nur die Abgeordneten eines Parlamentes - als Gesellschaft in der Demokratie mit einem Miteinander engagieren. Denn Demokratie lebt von diesem Miteinander und vom Mitmachen.
DOMRADIO.DE: Sie haben es gerade schon kurz angesprochen: Im kommenden Jahr wird das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" begangen. 1700 Jahre, die zeigen, dass wir wirklich eine große jüdische Tradition in Deutschland haben. Das haben Sie auch gerade angesprochen. Gerade in diesen Tagen ist es besonders wichtig, daran zu denken, oder?
Kuper: Ja, es ist ganz besonders wichtig, daran zu denken, weil Antisemitismus in unserem Land zunimmt. Weil rechtsextreme Tendenzen zunehmen. Und von daher ist es wichtig, dass wir gemeinsam Verbundenheit zeigen und dass wir uns an dieser Stelle engagieren.
Das Gespräch führte Johannes Schröer.