DOMRADIO.DE: Ist der Umgang mit dem Tod eine Sache der Gesellschaft?
Matthias Gockel (Palliativmediziner und Autor): In unserer Gesellschaft werden Lebensversicherungen abgeschlossen. Aber gleichzeitig wird der Zweck, für die sie gemacht ist, weitestgehend ausblendet. Das hat dann einfach auch zur Folge, dass man oft sein Leben so lebt, als würde man irgendwas zwischen 150 Jahren alt oder unsterblich werden.
Wenn man dann aber zu den doch eher statistisch wahrscheinlich Zeiten stirbt, hat man dann vieles noch nicht erledigt. Oder man hat anders herum in der Annahme, irgendwann belohnt zu werden, sein Leben so investiert, dass man mit dem Renteneintritt eben nicht das Leben genießen kann. Stattdessen wird man krank. Das erzeugt einfach unheimlich viel Verzweiflung und Wut, die vielleicht nicht in jedem Fall sein müsste.
DOMRADIO.DE: Sie haben viele Menschen sterben sehen, bleibt der Tod für Sie noch immer unbegreiflich?
Gockel: Der Tod selber sicher. Was ich kenne, was ich gesehen habe, das ist das Sterben und letztendlich Menschen, die gestorben sind. Aber, was im Moment des Todes oder danach passiert, das ist für mich weiterhin genauso ein Rätsel, wie für jeden anderen Menschen auch. Weil man es letztendlich erst am eigenen Leib oder dann nicht mehr am eigenen Leib erleben wird.
DOMRADIO.DE: Sie sind in der Situation, dass Sie immer wieder Menschen sagen müssen, dass sie sterben werden. Was macht das mit Ihnen selbst? Wie ist das für Sie?
Gockel: Ich glaube, das war lange Zeit einer der schwersten Teile des Berufs. Weil eben viele die Option, sterben zu können, verdrängen, löst eine Diagnose dann natürlich intensive Gefühle aus. Ein Gefühl ist: Das darf nicht sein. Das kann nicht sein. Das ist ungerecht und irgendjemand muss daran schuld sein. Dann bietet sich natürlich der Gesprächspartner unmittelbar an.
Das heißt, ich habe auch durchaus über die Jahre oft Wut, Zorn und Vorwürfe abbekommen. Das war am Anfang sehr schwierig. Inzwischen erkenne ich an, dass es dem anderen so geht, ohne dass ich daran schuld bin. Da sind diese ganzen Gefühle plötzlich nicht mehr persönlich auf mich bezogen. Dann kann ich ganz anders damit umgehen. Ich kann versuchen, demjenigen in diesen Gefühlen und dieser Verzweiflung - soweit es mir möglich ist - zu helfen.
DOMRADIO.DE: Was ist denn Ihre Erfahrung? Was braucht ein sterbenskranker Patient am dringendsten?
Gockel: Das, was er als einzigartiger Mensch in dem Moment braucht, das kann eben sehr unterschiedlich sein. Ich glaube, was jeder in einer solchen Ausnahmesituation braucht, ist das Gefühl, nicht allein zu sein. Er möchte in seiner Verzweiflung und seiner Angst gesehen werden und Unterstützung bekommen. Viele möchten einfach ehrliche Aussagen haben. Was ist genau die Situation? Auf was muss ich mich einstellen? Von was für Zeitrahmen reden wir hier? Gespräche sind also wichtig, auch wenn man es manchmal vielleicht nicht so genau vorhersagen kann. Ich glaube, die Menschen als Menschen zu sehen und ehrlich zu sein, das sind eigentlich die beiden wichtigsten Aspekte.
DOMRADIO.DE: Wie haben Sie das bisher erlebt? Sterben Menschen vielleicht leichter, wenn sie an ein Leben nach dem Tod glauben, wenn sie gläubig sind?
Gockel: Ich glaube, das kann man pauschal so nicht beantworten. Ich habe Menschen kennengelernt, die waren sehr gelassen gegenüber dem eigenen Tod. Einige davon waren tatsächlich sehr fest im Glauben verankerte - meist ältere Menschen, die einen beeindruckenden, fast schon nicht mehr nachvollziehbaren Glauben hatten. Sie hatten ein sehr großes Gottvertrauen.
Auf der anderen Seite habe ich aber auch Menschen erlebt, die sich als sehr gläubig gesehen haben und die dann plötzlich mit dieser biografisch zum ungünstigsten Zeitpunkt kommenden Erkrankung schwer ins Hadern kamen.
Ich glaube, man kann auch nicht sagen, wenn du ruhig und entspannt in den Tod sehen willst, dann werde gläubig. So einfach funktioniert es wahrscheinlich dann doch nicht.
DOMRADIO.DE: "Warum wir einen neuen Umgang mit dem Tod brauchen" haben Sie in Ihrem Buch "Sterben" im Untertitel genannt. Was genau muss anders werden?
Gockel: Inzwischen frage ich häufig nach: Hat sich in Ihrem Freundeskreis seitdem bekannt ist, dass Sie diese tödliche Erkrankung haben, irgendetwas geändert? Fast durch die Bank sagen alle: Der Freundeskreis ist kleiner geworden. Es haben sich Menschen zurückgezogen. Die, die übrig bleiben, die unterstützen mich allerdings sehr.
Das heißt, dieses Tabuthema, die Isolation, die sich aus diesem Tabu ergibt, die müsste dringend anders werden. Dazu gehört, dass wir eben nicht erst, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, über den Tod reden, sondern im Idealfall es als etwas Selbstverständliches sehen, darüber zu reden.
DOMRADIO.DE: Die Palliativmedizin ist noch ein recht junger Zweig der Medizin. In den letzten Jahren hat sich aber doch sehr viel getan. Wo stehen wir da heute in Deutschland?
Gockel: Sie haben völlig Recht. Es ist eine deutliche Verbesserung, wenn ich meine ersten Schritte in die Palliativmedizin vor 20 Jahren anschaue. Damals gab es in den größeren Städten nur vereinzelt Palliativstationen, vielleicht etwas mehr Hospize - ganz punktuell ambulante Strukturen. 20 Jahre später sind wir nun annähernd - mit vielen Einschränkungen – aber formal flächendeckend. Das heißt, auch in ländlichen Gebieten gibt es heute Zugang zu palliativmedizinischen Strukturen. Trotzdem gibt es natürlich noch Unterschiede.
Was sich jetzt gerade erst entwickelt, ist, dass die Palliativmedizin bei tödlichen Erkrankungen schon viel früher involviert wird. Das heißt, dass der Palliativmediziner bereits in der Situation der Diagnosestellung dabei ist. Denn es ist wichtig, bereits zu diesem Zeitpunkt bei den Ängsten zu helfen oder einfach mehr Zeit zu haben, den eigenen Tod und die eigene Restlebenszeit zu planen.
DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie sich für die Sterbenden in Deutschland?
Gockel: Die menschliche Zeit hat leider nicht die selbe Bedeutung, wie etwa der technische Aufwand. Das beginnt schon bei der Bezahlung. Sie können für mehrere zehntausend Euro eine Chemotherapie bekommen, die sie rein statistisch vielleicht zwei Monate länger leben lässt. Das wird ohne Probleme vom Gesundheitssystem zur Verfügung gestellt. Für das gleiche Geld können Sie im Prinzip einen Arzt und eine Krankenschwester haben, die rund um die Uhr an ihrem Bett sitzen und sich nur um Sie kümmern.
Wenn man sich diese Unterschiede anguckt und dann eben sieht, dass in den meisten Kliniken einfach aus Ressourcengründen ein Aufklärungsgespräch über eine tödliche Erkrankung zehn Minuten dauert, dann ist da einfach ein Ungleichgewicht. Das heißt, ich würde den Sterbenden gerne als genauso wichtig sehen, wie den zu Heilenden. Das ist, glaube ich, noch nicht überall der Fall.
Das Interview führte Hilde Regeniter.