KNA: Der Bundestag will sich am Mittwoch in einer sogenannten Orientierungsdebatte mit der Organspende befassen. Wie bewertet die Kirche die Organspende?
Prälat Karl Jüsten (Leiter des Katholischen Büros in Berlin): Die Kirche steht der Organspende ausdrücklich positiv gegenüber. Sie ist für Christen ein Akt der Nächstenliebe, auch über den Tod hinaus.
KNA: Ab wann ist ein Mensch tot, so dass ihm Organe entnommen werden können?
Jüsten: Der irreversible Ausfall des Großhirns, Kleinhirns und des Hirnstamms wird heute als Kriterium angewendet, um zu bestimmen, ab welchem Zeitpunkt eine Entnahme zulässig ist.
KNA: Und wie steht die Kirche zu dem Kriterium?
Jüsten: Die Kirche steht hinter der Anwendung des Hirntodkriteriums. Es ist nach Stand der Wissenschaft das Beste und Sicherste - sofern es sorgfältig angewendet wird. Das Herztodkriterium hat sich dementgegen als problematisch erwiesen. Die katholische Kirche hat sich 2015 intensiv mit der Frage auseinandergesetzt und die Ergebnisse in der Erklärung "Hirntod und Organspende" festgehalten.
KNA: Die Bundesregierung will als ersten Schritt die Organisation der Organspende verbessern. Was erwarten Sie sich von der Regelung?
Jüsten: Wir begrüßen das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende (GZSO). Es sieht unter anderem eine größere Transparenz, eine Refinanzierung vor; Spender sollen besser identifiziert und gemeldet werden. Außerdem sollen Transplantationsbeauftragte für die Wahrnehmung ihrer Aufgabe freigestellt werden. Die mangelnde Organisation gilt als wesentlicher Grund für die fallenden Organspendenzahlen.
KNA: Ein weiterer Grund ist der Vertrauensverlust. Wie kann wieder Vertrauen geschaffen werden?
Jüsten: Neben der Transparenz braucht es eine umfassende Aufklärung der Öffentlichkeit und eine entsprechende Aus- und Fortbildung des medizinischen Personals. Die Menschen müssen sicher sein, dass Spenderorgane nach überprüfbar gerechten Kriterien verteilt werden.
KNA: Wie kann das Thema besser transportiert werden?
Jüsten: Dazu braucht es einen "Kulturwandel", einen offeneren Umgang mit dem Ende des Lebens. Dass die Menschen grundsätzlich für solche Fragen durchaus ansprechbar sind, haben wir in der Auseinandersetzung über das Thema Sterbehilfe gesehen.
KNA: Derzeit gilt die Zustimmungslösung. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will diese nun durch eine "doppelte Widerspruchsregelung" ablösen, anders gesagt: Liegt kein Widerspruch des Patienten vor, gilt er automatisch als Spender. Wie bewerten Sie den Vorstoß?
Jüsten: Die Kirche lehnt die Widerspruchslösung ab. Ethische Voraussetzung für die Organspende als moralischer Akt und als Ausdruck eines hohen Ethos ist, dass der Spender beziehungsweise seine Angehörigen diesem Akt informiert, ganz bewusst, freiwillig und ausdrücklich zustimmen. Das gebieten die Selbstbestimmung, das Konzept der Patientenautonomie und die Würde des Menschen, die auch über den Tod hinaus von Bedeutung sind. Diese Prinzipien werden von der Widerspruchslösung unterminiert.
KNA: Aber auch Spahn spricht bei Organspende ausdrücklich von einem "Akt der Nächstenliebe"...
Jüsten: In der Tat. Gerade deshalb verlangt dieser Akt eine freie Entscheidung. Bei einem Akt von so hohem moralischem Wert kann es keine moralische und schon gar keine rechtliche Pflicht geben. Die Entscheidung zur Organspende muss - ungeachtet ihres großen Nutzens für Dritte - frei von allem sozialen und moralischen Druck bleiben. Die Freiwilligkeit ist entscheidender Bestandteil der Organspende.
KNA: In Ländern, in denen eine Widerspruchslösung besteht, besonders in Spanien, liegen die Spenderzahlen allerdings höher.
Jüsten: Die Widerspruchslösung ist hierfür aber nicht der Grund, wie auch andere Ländervergleiche zeigen. Die Gründe für eine höhere Spendenzahl sind vielfältig. So spielen sowohl strukturelle Unterschiede bei den Prozessen und Abläufen der Organspende eine Rolle, als auch die Tatsache, dass in verschiedenen Ländern das Herztodkriterium angewendet wird.
KNA: Was befürchten Sie im Falle des Wechsels zur Widerspruchsregelung?
Jüsten: Ich befürchte vor allem eine weitere Verunsicherung, einen weiteren Vertrauensverlust der Menschen. Denn diejenigen, deren Vertrauen in die Transplantationsmedizin in der Folge von Missbräuchen sowieso schon gering ist, dürften den gleichsam automatischen Zugriff des Staates auf ihren Körper im Falle ihres Ablebens nicht gerade als Akt der Vertrauensbildung ansehen. Es könnte zu einer Gegenbewegung kommen, die wir uns alle nicht wünschen.
KNA: Es gibt einen fraktionsübergreifenden Vorstoß für eine erweiterte Zustimmungsregelung. Welche Lösung befürworten Sie?
Jüsten: Bevor wir die Modalitäten der Organspende ändern, sollten wir doch erstmal abwarten, wie das nun vorliegende Gesetz wirkt, von dem sich ja alle eine höhere Zahl an Organspenden erwarten. Die Vorhaben sollten entflechtet werden. Sollte dennoch keine Verbesserung eintreten, dann wäre es eine Option, die Bürger stärker mit der Frage einer Organspende zu konfrontieren als bisher.
KNA: Dennoch, wie stehen Sie zur erweiterten Zustimmungsregelung, bei der sich jeder mindestens ein Mal entscheiden muss?
Jüsten: Auch hier gibt es noch offene Fragen. In jedem Fall muss auch die Möglichkeit bestehen, dass man sich nicht entscheiden will. Und es muss die Option bestehen, sich zu einem späteren Zeitpunkt zu entscheiden.
KNA: Eine Organspende kann in einen Widerspruch zur Patientenverfügung geraten. Die Entnahme setzt eine intensivmedizinische Behandlung zum Erhalt der Organe voraus. Lässt sich der Widerspruch auflösen?
Jüsten: Tatsächlich kann es einen Zielkonflikt zwischen der Patientenverfügung und der Erklärung zur Organspende geben. Grund dafür ist meistens, dass den Menschen nicht immer bewusst ist, dass die Organentnahme nur dann erfolgen kann, wenn lebenserhaltende Maßnahmen ergriffen werden. Zu einer freien und bewussten Entscheidung gehört deshalb auch, dass die Menschen über alle Folgen einer Bereitschaft zur Organspende umfassen informiert werden.
Das Interview führte Christoph Scholz.